Carolin Emcke. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben. Brüchige (Un-) Sagbarkeiten heute.

Unsagbarkeit.

Große Geister wie Hugo von Hofmannsthal, Musil, Nietzsche oder Bachmann haben mit diesem Phänomen gespielt. Und ihrer Sprachskepsis als Dichter und Denker dabei zugleich mit den farbigsten Worten Ausdruck verliehen. Sich performativ durch ihr eigenes Handeln selbst widersprochen. Die richtigen Worte finden, um die schrecklichen und schönen Dinge in der Welt wahrhaftig zu beschreiben – wer könnte es besser als die Poetin, der Poet unter uns? Jemand, der gar nicht anders kann, als gegen die Grenzen der Sprache anzuschreiben, neue Metaphern zu erfinden um die untaugliche Alltagssprache auszutricksen?

Carolin Emcke. Weil es sagbar ist. Quelle: Fischer Verlag Frankfurt

Carolin Emcke. Weil es sagbar ist.
Quelle: Fischer Verlag Frankfurt

Nicht ohne Grund hat sich die promovierte Essayistin und Journalistin Carolin Emcke für ihren gleichnamigen Beitrag im Essayband „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ (Fischer Verlag 2013), einen Bericht der russischen Dichterin Anna Achmatowa an den Anfang gestellt:

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ‚erkannte‘ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):

‚Und Sie können dies beschreiben?‘

Und ich sagte:

‚Ja.‘

Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“

 

Anna Achmatowa verspricht hier einer vom Terror unter Stalin zutiefst traumatisierten Frau, Worte zu finden für das Erlebte, um anderen gegenüber Zeugnis ablegen zu können. Auch sie ist Opfer, wartet vor den Gefängnistoren auf die Entlassung ihres inhaftierten Sohnes. Aber gleichzeitig ist sie mehr als das. Der allgemeinen Sprachlosigkeit der verdinglichten Frau mit den „blauen Lippen“ setzt sie die Möglichkeit einer Re-Humanisierung der Traumatisierten durch die eigene Zeugenschaft entgegen. Ein starkes Plädoyer für die Benennbarkeit eigentlich unvorstellbarer Ereignisse, hinter das Emcke einen wichtigen Zusatz anbringt. Eine Art Bedingung, ohne die es der Autorin schwer fällt, Achmatowas Vertrauen in die Macht der Sprache, die Möglichkeit der Sagbarkeit, anzuschließen.

Zentral ist hierbei das „Wie“ der Erzählung. Erfahrene Gewalt kann ihrer Meinung nach erzählt werden, muss erzählt werden. Denn: „Wenn Erfahrungen unbeschreiblich sind, bleiben sie auch undurchdringlich“ (Emcke S. 21) und die Opfer verharren mit ihnen für immer alleine. Wichtig ist aber nach Emcke die gewählte sprachliche Form. So betont sie:

„Das Erzählen trotz allem kann gelingen, wenn es mit keinem naiven Anspruch auf Vollständigkeit oder Einstimmigkeit einhergeht. Diese Erzählungen werden Irrtümer enthalten, auch Rätsel. Erzählte Erfahrung, individuell oder kollektiv, wird sich verdichten und womöglich stimmiger werden, als sie es war, sie wird sich verzetteln und womöglich brüchiger werden, sie wird nicht immer linear oder gar abgeschlossen daherkommen.“ (Emcke. S. 105)

Wie könnte verständlicher über ein Ereignis berichtet werden, das durch seine Brutalität aus dem alltäglichen Erfahrungsrahmen herausfällt, als eben gerade mit einer irritierenden, brüchigen, „anderen“ Erzählung? Klug wendet sich Emcke mit ihrem differenzierenden Zusatz gegen den italienischen Philosophen und Holocaust-Experten Georgio Agamben, der den Traumatisierten von Auschwitz jegliche Sprech- und Handlungsmöglichkeit abspricht. Auch wenn es manchmal viele Jahre braucht, bis die Entrechteten eine Erzählung für die eigenen Erfahrungen finden, sollte man ihnen nach Emcke nicht von Grund auf die Möglichkeit absprechen, das Schweigen irgendwann selbst zu beenden.

Nur dürfen wir uns nicht wundern über die ungewöhnliche Art der Berichte, sondern müssen uns einlassen auf fremde, verstörende Erzählungen aus einer anderen Welt. Als Kriegsreporterin ist Carolin Emcke im Kosovo, Afghanistan, Gaza und Israel unterwegs gewesen und immer wieder auf Menschen gestoßen, die ihre Erzählungen loswerden mussten. Egal auf welche Weise, stotternd und stammelnd, scheinbar zusammenhanglos, bruchstückhaft. Trotzdem, oder gerade deswegen, hat sie zugehört und in weiteren, weniger theoretischen Essays im bereits genannten Band versucht, diesen schattenhaften Menschen eine Stimme zu geben, die gehört werden kann. Von den Kritikern (Siehe Süddeutsche Zeitung v. 31.10.2013. Tim Neshitov: „Last der Zeugenschaft“), ist diese nur konsequente Vorgehensweise nicht verstanden worden. Auf die theoretische Einführung in die allgemeine Problematik im ersten Essay, versucht Emcke in den folgenden Texten ihrem verantwortungsvollen Auftrag als Erzählerin nachzukommen. Dem Vorwurf Neshitovs, die Essays würden ihren „Fokus“ verlieren, ist zu entgegnen, dass Emckes Plädoyer für eine unabgeschlossene Erzählung in der praktischen Umsetzung gleichermaßen für die Autorin gilt. Sie selbst muss eine geeignete Form finden um über die Geschichten der Anderen berichten zu können. Durch autobiographische Einschübe durchbricht Emcke dabei ihren wissenschaftlichen Schreibstil und entspricht deswegen so gar nicht einer „verunsicherten Akademikerin“, die meint, dass sich „das Chaos der Welt im Zweifelsfall durch systematisierende Euphemismen erklären“ (SZ v. 31.10.2013) lässt. Im Gegenteil zeigt sich hier, dass wir mit einem simplen „Entweder-Oder“ nicht weiterkommen, weil sich uns eine Autorin mitteilt, die sowohl Wissenschaftlerin als auch Journalistin ist. Theorie und Praxis reichen sich somit die Hand. Überhaupt scheint Emcke in ihren Essays an eine grundlegende Fähigkeit des Menschen zu appellieren,  die im Zeitalter des Neoliberalismus leider immer mehr verloren geht:

Die Fähigkeit zuzuhören. Dabei geht es nicht um das mitleidige, distanzierte Zuhören, sondern das oft psychisch anstrengende, emphatische. Eine Eigenschaft, die den Menschen zum Menschen macht. Wenn wir den Opfern des Holocausts ihre eigene Erzählfähigkeit absprechen, dann nehmen wir ihnen auf übergriffige Art und Weise die Möglichkeit, sich wieder ihres eigenen Subjekts bewusst zu werden. Sie bleiben seelenlose Geister, mit deren Geschichte wir uns nicht weiter beschäftigen können. Und wie soll dann eine Erinnerungskultur entstehen? Ohne Erzählungen keine Erinnerungen. Kein noch so großes, in Stein gehauenes Mahnmal der Welt kann die Wirkkraft einer eindrücklichen Erzählung ersetzen. Emcke kritisiert zurecht den gut gemeinten aber irreführenden Satz eines Politikers, der nach seinem KZ-Besuch in Auschwitz schicksalsergeben twittert:

„Visit to Auschwitz changes you. No words to describe the enormity of this crime. We must never forget.“

„Wir dürfen niemals vergessen, dass es keine Worte gibt. Was soll das heißen? Woran sollen wir uns dann erinnern? Nur noch daran, dass etwas sich nicht beschreiben lässt? Wir sollen nie vergessen, dass wir nicht sprechen können von Auschwitz? Dürfen wir deswegen nicht sprechen?“ (Emcke S. 101)

Hier wird aus einem „Trauma“ ein „Fetisch“gemacht. Um dann nichts weiter mit der Sache zu tun haben zu müssen, weil man gegen übernatürliche Geschehnisse machtlos ist. Die Einfachste aller Lösungen ist demnach, das Böse als etwas dämonisches, übersinnliches zu beschreiben, um seine eigene Handlungslosigkeit zu rechtfertigen.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wie wäre es, den Satz von Wittgenstein umzuformulieren; aus dem Schweigen ein Schreiben zu machen? Ingeborg Bachmann hat es trotz Zweifel versucht, gegen die Grenzen der Sprache mit ihrer Lyrik anzudichten. Auch Anna Achmatowa meinte ‚dies‘ beschreiben zu können:

„Vielleicht glaubte Achmatowa wirklich, dass sie es könnte, ‚dies‘ zu beschreiben, vielleicht wusste sie auch nur, dass ‚dies‘ eben kein Paket aus Informationen ist, sondern dass es ein Moment der Brechung enthalten wird, dass ‚dies‘ übersetzt und transformiert werden muss.

Und vielleicht wollte sie es auch nur behaupten, wie ein utopischer Vorgriff auf jemanden, dem ‚dies‘ zu erzählen wäre. Vielleicht lag in dem ‚Ja‘ auch schlicht ihre eigene Handlung, dass es jemanden geben werde, dem zu vertrauen und dem ‚dies‘ zu erzählen wäre. Uns.

Und dass wir begreifen würden, dass jede Generation wieder neu vor einer Frau mit blauen Lippen stehen wird, die fragt:

‚Und Sie können dies beschreiben?‘, und dass jede Generation wieder neu eine eigene Form und Sprache finden muss, auf diese Frage mit ‚Ja‘ zu antworten.“ (Emcke. Weil es sagbar ist. S. 110)

 

Hier erklingt ein weiterer Appell an die Lauschfähigkeit der Zuhörer/innen, die zum Glück nicht nur Dichter besitzen. Bleibt fraglich, ob wir uns einlassen möchten auf die fremden Erzählungen der Anderen, um dabei erkennen zu können, dass keine Erzählung als absolut fremdes für sich alleine steht, sondern zu unserer aller gemeinsamer, eigenen (Un-) Menschheitsgeschichte dazugehört. Sonst wäre ein empathisches Einfühlen gar nicht möglich.

Die Autorin Carolin Emcke Quelle: Wikimedia Commons."Amrei-Marie"

Die Autorin Carolin Emcke
Quelle: Wikimedia Commons.“Amrei-Marie“

Carolin Emcke gelingt es in ihren Essays auf einzigartige Weise ihre erlauschten Erfahrungen in eine analytisch-poetische Sprache zu packen. Die dicken Brocken scheinbarer Unsagbarkeiten werden dabei für die Leser/innen in verständliche Kieselsteine der Sagbarkeit umgewandelt. In Teile eines irritierenden, endlosen Mosaiks die sich mit anderen Erzählungen verbinden lassen.

Um, mit Achmatowa und Arendt gesprochen, ‚dies‚ irgendwann (vielleicht) zu verstehen.

 

 

Peter Kurzeck: Ein Erzähler ohne Bewusstseinstrübungen

„Sich erinnern. Und auch wer wir selbst sind. Sich erinnern und heimfinden.

               Wie die Zeit vergeht.“

(Kurzeck, Peter. Als Gast. Frankfurt, 2012)

Der Autor Peter Kurzeck

Der Autor Peter Kurzeck. Foto von Wikimedia Commons / „Liberal Freemason“ – CC3.0

Im Erinnerungsfluss sich sein Leben erzählen. Der Frankfurter Autor Peter Kurzeck hat es ein Lebtag lang versucht. Immer wieder nach den richtigen Worten gesucht, um sich sich selbst in dieser Welt überhaupt vorstellen zu können. Im Hier und Jetzt. An der Bockenheimer Landstraße entlang ins ausgestorbene Westend hinein. Ein einsamer Fußgänger mit Vergangenheit, vergangener Zeit, an die er nicht aufhören kann, sich zu erinnern. Ein Wettlauf gegen die Zeit mit der Zeit; wohin werden ihn seine müden Beine tragen?

Peter Kurzecks mehrteilig-unvollendetes und im Frankfurter Stroemfeld Verlag erschienenes Romanprojekt „Das Alte Jahrhundert“ erfordert Konzentration und die Bereitschaft sich voll und ganz einzulassen auf einen Protagonisten, der sich ohne gesunden Selbstschutz seiner Mitwelt aussetzt. Der wie ein Schwamm sämtliche, auf ihn einstürzenden Erfahrungen in sich aufnimmt, um dann damit zurecht zu kommen. Es gibt für ihn keinen Alkohol (mehr) und auch keine sonstigen Drogen, um die Wirklichkeit erträglicher zu empfinden.

Kurzeck. Als Gast. Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Als Gast.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Wenn man sich hinein begibt in diesen dichten Erzählstrom, dann eröffnen sich Wahrnehmungswelten, die eine vergangene Zeit lebendig werden lassen. Im Roman „Als Gast“ z.B. die beginnenden 80-er Jahre in Frankfurt Bockenheim:

„Eine Frau. Nicht mehr jung. Leere Einkaufstaschen. Im Kopf eine lange Liste mit Sorgen und alles, was sie nicht vergessen darf. Vielleicht lacht sie gern, aber hat schon lang nicht gelacht und weiß nicht mehr, dass sie gern lacht. Weiß nicht mehr, wie es geht. Vielleicht eine Griechin, die am Rand von Bockenheim oder in Ginnheim, in Hausen, in Rödelheim wohnt und hat eine Arbeit bei Hartmann und Braun oder im HL, beim Plus, beim Penny, beim Aldi, beim Schlecker zur Aushilfe und dazu noch vier Putzstellen. Alle Tage eine große Familie oder schon lang mit sich selbst allein.“ (Als Gast S. 412)

Voller Empathie betrachtet der Protagonist eine unbekannte Frau, dichtet ihr ein Leben an, das genau so sein könnte. In der Phantasie des Beobachters ist auch sie mit ihren Sorgen ganz alleine, kämpft jeden Tag neu ums Überleben. Beim Lesen von Kurzecks Romanen werde ich manchmal an den Frankfurter Autor Wilhelm Genazino erinnert, weil auch er Seite um Seite mit Beschreibungen alltäglicher Szenen auf der Straße füllen kann. Worin sich beide allerdings unterscheiden, ist die emotionale Ebene. Den Figuren Genazinos fehlt die empathische Anteilnahme in der Beobachtung; sie empfinden bestenfalls Mitleid für ihr Gegenüber. Personen oder Geschehnisse werden dabei vom Ich-Erzähler mit einer entlarvenden Schonungslosigkeit beschrieben, zu der Kurzecks Figuren niemals fähig wären.

Vielleicht halte ich Kurzeck deswegen für einen politischen Autor. Weil er es durch seine sensiblen Alltagsbeschreibungen erreicht, ohne forciert-moralisierenden Grundtenor auf soziale Missstände hinzuweisen. Beobachtete, fremde Objekte werden in den Selbstgesprächen des Ich-Erzählers zu Subjekten mit einer eigenen (leidvollen) Geschichte, die er erzählen muss, weil er sich ein stückweit auch immer mit ihnen identifiziert. Sein eigenes Leben in den beschriebenen, (fiktiven) Geschichten der Anderen wiederfindet. Aus diesem Grund braucht er manchmal auch einen ganzen Tag für ein paar Sätze. Die Arbeit eines Schriftstellers lässt sich nicht alleine am schriftlich fixierten output messen; die oft zermürbende Sammelei von Eindrücken gehört genauso dazu. Aber erzähle das einmal dem Arbeitsamt:

„Und wenn Sie nicht schreiben? fragt Anne. Die Pausen? Trotzdem, sagte ich, auch wenn man nur anderthalb Sätze am Tag, man braucht immer den ganzen Tag dafür!“ (Als Gast. S. 408)

Die innerliche, einsame, von Selbstzweifeln erschütterte Schreibarbeit hört niemals auf. Zeitmangel ist deswegen immer vorhanden, weil die Ruhepausen fehlen, in denen die Zeit gefühlt langsam verstreichen könnte:

„Im Verzug, sagte ich. Mit der Arbeit und mit meinem Leben. Seit Jahren schon und mit jedem Jahr mehr! Sagt man in oder im Verzug? Vergangen die Zeit!“ (Als Gast, S. 395)

Seiner Schreibarbeit bleibt er auf die Art immer etwas schuldig, hinkt den zu vollendenden Sätzen hinterher. Er klingt wie ein genervter Chef, der seinen Angestellten darauf hinweist, dass er die Arbeit zu langsam erledigt hat und deswegen ein elender Versager ist. Arbeit und Leben gehen eine unentwirrbare Sinnsymbiose ein, die für heutige, vom Kapitalismus geprägte Lebensentwürfe oft selbstverständlich scheint. Peter Kurzeck übernimmt dabei typisch formalisierte Begriffe aus der Arbeitswelt, um damit sein Außenseiterleben als Schriftsteller infrage zu stellen. Der Protagonist weiß, wie es zugeht in der Welt des Broterwerbs und hat sich eines Tages für den unsicheren Weg entschieden, weil es nicht anders ging. Die Worte in seinem Kopf, auf dem Gehsteig oder im Eiskaffee aufgesammelt, in eine Form gebracht werden mussten. Der Frau auf dem Sozialamt, wie sollte er ihr nur erklären, was er da tat. Etwas ohne sichtbares Resultat für diejenigen, die nicht richtig hinsehen wollten. Diejenigen, die nicht wie er dem Bann der Sprache verfallen waren, keine Sprachpoesiejunkees weit und breit in den Büros, die fühlten, was er empfand. Und trotzdem. Immer wieder. Auch wenn er oft nicht mehr wollte, sich nach einer „ordentlichen“ Arbeit sehnte, nach einer anerkannten Existenzberechtigung. Solange sich ihm die Worte immer wieder auf seinen Streifzügen durch die Stadt aufdrängten, sich ohne kurze Bewusstseinstrübung ihren Erzähler holten, blieb ein kleiner Trost. Er konnte so tun, als ob wenigstens die Zeit in solchen Momenten ganz ihm gehörte:

Kurzeck. Übers Eis.<br /> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Übers Eis.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jetzt auf dem Heimweg im Gehen im Kopf schon zu schreiben anfangen. Als ob mir das zusteht. Arbeitslos, Schriftsteller. Daß es eine Zeit gibt. Daß die Zeit mir gehört. Und auf jedem Weg dir weiter dein Leben ausdenken.“ (Kurzeck. Ein Kirschkern im März. S. 220 Band 3)

Peter Kurzeck wurde als kleiner Junge 1946 mit seiner Familie aus dem Sudetenland vertrieben und verbrachte seine Kindheit mit seiner Mutter und Schwester in Staufenberg bei Gießen. Das Vorwort aus dem dritten Band „Ein Kirschkern im März“ lautet dann bezeichnenderweise auch: „Von weither und fremd, überall fremd. Aus Böhmen und ohne Haus.“ Fremdheit ist der durchgängige Hintergrundblues in den Bänden „Das Alte Jahrhundert“. Auch bei guten Freunden fühlt sich der Protagonist nur als „Gast“. Ein Traumwandler, der sich seines Zustandes von Jahr zu Jahr bewusster wird, ihn aber auch bei anderen wahrnimmt:

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.<br> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jeder in seinem eigenen Traum, zeitlebens in seinem eigenen Traum gefangen.“ (Peter Kurzeck. Übers Eis. Seite 142. Band 1)

Wie können der fortschreitende Wirklichkeitsverlust gestoppt und mögliche Alpträume verhindert werden? Eigentlich durch neu gemachte Erfahrungen, dadurch, dass der Protagonist nach vorne schaut und schmerzreiche Erinnerungen schriftlich verarbeitet werden. Genau das geht nur mithilfe der Worte, dem permanenten Versuch, unbeschreibbares auszubuchstabieren. Aus dem Inneren herauszuschreiben und sich der Öffentlichkeit zu erklären. Um sich dann Schritt für Schritt seiner eigenen Existenz in dieser Welt gewiss zu werden.

Trotz der oft sehr schwermütigen Stimmung in Kurzecks Poetologie bleibt zuletzt immer die Hoffnung auf eine bessere Zeit. Hoffnungsboten sind die Kirschkerne im März, die unter der Schnee- und Frostdecke überwintert haben. Sie erzählen vom Frühling, der die müde Kälte vertreibt und die Lebensgeister weckt. Den Frühling 2014 konnte Peter Kurzeck nicht noch einmal erleben, weil der neblige November stärker war. Der Monat im Jahr, in dem die guten Geister sterben. Vielleicht findet dieser Blog im Gedenken an diesen besonderen und leider viel zu unbekannten Schriftsteller Leser/innen, die trotz Hektik und Stress im Alltag weiterhin auf die Kirschkerne und deren glückversprechende Nachricht achten. Damit wir, mit Kurzeck gesprochen, nicht selbst „zu Gespenstern werden“, sondern hellwach unseren individuellen Geistern ihren Überlebenswillen zurückgeben.

I hope so.

„Noch einmal die Seestraße entlang. Müd, immer müder. Die Zeit ruckt. Und jetzt kommt die Dämmerung. Grün die Luft, Abend. Und in allen Höfen, in jedem Baum, unter jedem Küchenfenster singt eine Amsel. Vorfrühling, ein langer schmerzhafter Vorfrühling.“ (Kurzeck. Kirschkern. S. 232)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lili Grün: Ein Leben zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit

Im ersten Blogbeitrag hat sich die österreichisch-jüdische Schriftstellerin Lili Grün (1904-1942) bereits zu Wort gemeldet. Eine Stimme bei der es sich lohnt, eine längere Zeit zuzuhören. Exemplarisch möchte ich vier Gedichte von ihr vorstellen, die thematisch die Bereiche (Arbeits-) Alltag, Liebe und Tod behandeln. Die Texte habe ich dem gerade neu erschienenen Band „Mädchenhimmel“ des Berliner AvivA-Verlages entnommen, in welchem es im Nachwort, verfasst von der Herausgeberin Anke Heimberg heisst, dass kein Nachlass der Autorin mehr existiere. Deswegen muss ich mich an Einzelveröffentlichungen der Autorin in Zeitungen aus den 20-er / 30-er Jahren halten; Texte, die der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entgehen konnten. Außer Gedichten und kurzen Erzählungen hat Lili Grün Romane geschrieben, die in diesem Blog nicht thematisiert werden. Das lyrische Ich im Gedicht „Notschrei einer allzu Braven“ hat mir beim Lesen direkt zugezwinkert, will heißen, der Text hat es geschafft – was bei dieser Form von Literatur nicht selbstverständlich ist – Kontakt aufzunehmen, ungefiltert zu mir zu sprechen:

Notschrei einer allzu Braven

Ach, ich geh mir selber auf die Nerven,

Weil ich gar so artig bin,

Und voll unentwegter Pflichterfüllung

Steck‘ ich stets in meiner Arbeit drin.

 

Niemals tu‘ ich einen Schritt vom Wege,

Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh‘

Meinen Mann ich, und die Leute sagen,

Daß man so was nur begeisternd finden kann.

 

Doch dies ew’ge Schulterklopfen

Find‘ ich unerträglich und gemein,

Und ich fleh‘ zum blauen Sommerhimmel:

Herrgott, laß mich einmal anders sein!

 

Laß mich tolle Kapriolen schlagen,

Laß mich lasterhafte Dinge sagen,

Laß mit angeklebten Wimpern

Meine Äuglein herzlos klimpern,

Laß mich faul auf meinem Diwan liegen

– Und in diesem Zeichen – Herrgott –

Laß mich siegen!

 

Niemand kann sich selbst entrinnen,

Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm –

Und die andern sind die Schlimmen –

– Wenn ich noch so neidisch bin!

 

Vielleicht ist es der „Notschrei“ nach dem  Anders-Sein, die kompromisslose Sehnsucht nach einem existentiellen Ausbruch aus der (eigenen) Identität, der aufhorchen lässt. Eine Identität, die aufgrund sozialer Prägungen entwickelt worden ist, und die das lyrische Ich performativ immer wieder selbst bestätigt. „Artig“ und „brav“ fügt sich das Ich, wie es sich für liebe „Mädchen“ gehört, in seine zugedachte, scheinbar feste Rolle. Angepasst und massentauglich geht es einer geregelten Arbeit nach und kann sich dabei nicht einmal über ein schulterklopfendes Lob von den Anderen freuen. Weil der Verblendungszusammenhang, mit Adorno gesprochen, eben nicht verblendend genug ist, um auch die Gefühle im Alltagsnebel zu ersticken. Die Emotionen melden sich in einer ruhigen, nachdenklichen Minute zu Wort (zum Glück!); Wut entlädt sich im kriegerischen Ausspruch: „Lass mich siegen!“. Es stellt sich die Frage, über wen das Ich eigentlich siegen möchte. Über seinen inneren, unüberwindbaren Schweinehund, sich endlich aus vorgegebenen Geschlechterstrukturen zu befreien, damit aus dem braven, angepassten Mädchen eine emanzipierte Frau wird? Eine Frau, die es sich leisten kann, mit „angeklebten Wimpern“ und trägem Gemüt auf dem häuslichen „Diwan“ einzuschlafen, dabei lasterhaft zu träumen, ohne sich gleich als schlechtes Frauenzimmer zu fühlen? Ein Sieg über tyrannische Normen wäre auch ein Sieg über bestehende politische Verhältnisse. Angepasstheit lässt das individuelle Subjekt in den Hintergrund treten, eine allgemeine Gleichheit ersetzt die einzigartige Vielfältigkeit des Einzelnen. In der letzten Strophe betont das Ich mit resignierendem Tonfall noch einmal die feststehende, unbewegliche Identität jeder einzelnen Person, schicksalergeben zieht es einen Trennungsstrich zwischen den „Braven“ und den „Schlimmen“ mit einer konsequent essentialistischen Haltung, die eine Veränderung des „Eigenen“ als Unmögliches begreift. Das Einzige was dem Ich bleibt, ist der Neid auf das machtvolle Andere um dabei immer wieder Gebete in den Himmel zu schicken, die nicht erhört werden, weil ein echter „Sieg“ nur durch den Ausbruch aus der eigenen passiven Haltung erreicht werden könnte.

Weiterführend soll nun ein Gedicht betrachtet werden, das das „brave Mädchen“ als „brave Arbeiterin“ in einem (bis heute) klassischen Frauenberuf, demjenigen der Stenotypistin, genauer charakterisiert:

 

Lied der Stenotypistin

Wir müssen den ganzen Tag tippen.

Mit brennenden Augen und schmerzendem Rücken

Bestätigen wir ihr Wertes vom Soundsovielten,

Das wir mit bestem Dank erhielten.

 

Wir haben nur eine Sehnsucht: auszurasten

Von des Tages ewigem Lärmen und Hasten,

Denn unser armes Hirn ist müd und leer,

Wir haben keine bessere Sehnsucht mehr.

 

Unsere großen, mutigen Gedanken

Sind gestorben in des Alltags Schranken,

Unserer Herzen große Zärtlichkeit

Ist gestorben in des Alltags Leid.

 

Auch wir würden verstehn,

Kostbare Kleider zu tragen,

Auch wir würden verstehn,

Zärtliche Worte zu sagen.

 

Doch wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen,

daß wir uns hiermit beeilen,

Ihnen das gewünschte Offert vorzulegen,

Um mit Ihrem Vertreter nochmalige Rücksprache zu pflegen…

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach der großen Leidenschaft,

Doch das kommt ja nicht in Frage,

Denn wir sind: eine perfekte Kraft.

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach kindischen Freuden, dumm und toll,

Doch wir erwarten Ihr Geschätztes

Und zeichnen ergebenst hochachtungsvoll…

 

Das Pflichtbewusstsein einer „perfekten Kraft“ wird in diesem Gedicht immer wieder durch emotionale Ausbrüche infrage gestellt. Der permanente Wechsel zwischen objektivem Zwang und subjektiven Empfindungen macht deutlich, wie unausgeglichen das angepasste Subjekt sein Leben als Alltagstotgeburt fristet. Absorbiert von einem System, in dem eigene Wünsche und Hoffnungen keine Entfaltungsmöglichkeiten finden, versteckt sich das Ich hinter der vorgegebenen Rolle einer Sekretärin. Es fügt sich in die Erwartungshaltung anderer, um Teil des Arbeitswerkzeugs, der Schreibmaschine, zu werden. Was wir nach außen sind, haben wir auch nach innen hin zu sein. Wenn das nur so einfach wäre, wenn es dem Ich nur gelingen würde, seine Selbstreflexion über den eigenen Zustand ausschalten zu können. Aber nein. Immer wieder funken Emotionen der Sehnsucht und der Leidenschaft dazwischen, sträuben sich gegen den angestrebten Perfektionismus. Möchten raus aus dem Kasten um „kindische Freuden“ erleben zu dürfen. In der hier beschriebenen Arbeitswelt wird jeder mögliche Anspruch das Leben einer Anderen zu führen ausgeblendet. Es gibt für die arbeitende Frau in den 30-er Jahren nur diesen körperlich und seelisch harten Frauenberuf um sein eigenes Brot zu verdienen. Der Chef diktiert, die Stenotypistin tippt fleißig. Mit den Gedanken aber ist sie irgendwo über den Wolken. Lili Grüns manchmal naiv klingende Poetologie erfährt nicht nur in diesem Gedicht eine reflexionskritische Ebene, die besonders durch den ironisierenden Ton  erzeugt wird. Es könnte auch alles anders sein…wenn… die Erwerbsarbeit kein „müdes Hirn“ entstehen ließe und somit jegliche Formen der Sehnsüchte abtöten würde.

Etwas leichtfüßiger kommt das Gedicht „Elegie bei einer Tasse Mocca“ daher, das als Versuch, dem drögen Alltag durch Liebesfluchten zu entgehen, gelesen werden kann. Lili Grüns Sinn für Humor scheint hier unverkennbar auf:

 

Elegie bei einer Tasse Mocca

Mein letzter Freund war ein Jurist.

Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.

Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,

Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich

nervös.

Darum wünsch‘ ich mir zum nächsten Verehrer

Beispielsweise einen Volksschullehrer.

Ein Mann, der den ganzen Tag kleine Kinder unter-

richtet,

Muß doch, nebst Verstand und anderen Gaben,

So etwas wie eine Seele haben.

Und ich bin so scharf auf Seele!

 

Jedoch für Stimmung und Poesie

Wäre die einfachste Lösung ja die:

Man könnte einen Landpastor bekommen.

Aber die Leute sagen, es wird so schwer gehen,

Und ich muß ja selbst gestehen:

Durch meinen vergangenen Juristen

Habe ich so wenig Umgang mit Christen.

Und wenn man bedenkt, wie selten sich so ein Landpastor

Ins Romanische Café verirrt,

Muß man zugeben, daß es einigermaßen schwer sein

wird!

Der Ausruf: und ich bin so scharf (…) klingt ungemein vertraut in unseren Ohren. Man hat den Eindruck, da äußere sich gerade ein in den 90-ern geborener Teenager über seine Freundin, seinen Freund. Das Objekt „Seele“ ist dann schon eher veraltet. Ausgestorben ist der Begriff in seinem Gebrauch heutzutage geradezu. Seelenlosigkeit scheint mittlerweile eine gute Voraussetzung zu sein um auf dem freien Markt Erfolg zu haben. Die erfüllte Liebe wird beim lyrischen Ich eng an die Berufswahl einzelner (zukünftiger) Geliebter gekoppelt. Ein Jurist hat keine Seele, ein Lehrer könnte eine besitzen, wäre aber für eine aufstrebende Künstlerin mit kreativem Potential ein Stimmungentöter. Also doch der Landpastor? Hier stellt sich eine elementare Frage: Welche Wahl ist für eine Künstlerin die richtige, wenn ihr kreativer Freiraum in der Beziehung erhalten bleiben soll? Für „Stimmung und Poesie“ scheint der klassische Ernährer nicht der richtige Partner zu sein, aber eine starke Schulter klingt dennoch verlockend, weil da einer wäre, der das lästige Brot verdient. Die erfüllte Liebe wird als Utopie entlarvt, weil ein einzig mögliches Entweder-Oder, eine Frau die auf ihre Selbstbestimmung wert legt, niemals glücklich machen kann. Vielleicht wären zwei Männer etwas? Oder noch eine Frau zum Mann? Legen wir uns darauf fest, dass es ein Mensch mit Seele, d.h. mit einem ausgeprägt-feinfühligen Charakter sein sollte…

Der Tod wiederum gilt als erbarmungsloser Seelenfänger. Und genau diesen schwierigen Gesellen versucht das lyrische Ich im vierten Gedicht „Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn“ um den Finger zu wickeln:

 

Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn

Ach, glaube nicht, ich dächte, man könnte dich bestechen!

Was hätt‘ es für einen Sinn, gerad‘ mit dir über das Leben

zu sprechen.

 

Du ahnst ja nicht, wie schön es ist, von dieser Welt zu sein!

Es ist so schön, ins Kino zu gehn,

Um einen kitschigen Tonfilm zu sehen.

Schön ist es, im Gras zu liegen

Und zuzusehen, wie die Maikäfer fliegen,

Und es ist so lieb, wenn uns ein Mann in den Armen hält,

Und sein Mund, der uns küsst, ist die ganze Welt…

 

Ich weiß ja doch, daß es dich einmal gibt.

Drum, wenn du kommst, komm nicht als Feind!

Fall‘ mich nicht tückisch von rückwärts an,

Komm nicht als Unfall in der Eisenbahn,

Komm nicht als Räuber aus dem Hinterhalt,

Und vor allen Dingen: komm nicht zu bald.

 

Und wenn du kommst, leg deine kühle Hand

Zuerst auf den Verstand.

Denn ich will von dir nichts wissen.

Und mit dem Herzen geh‘ ein wenig freundlich um,

Mach es nicht bös!

Es war, solang es lebte, schon nervös!

Und es war immerzu verliebt.

Es fürchtet dich und deinen kalten Kuß,

Und es wird nie verstehn,

Daß es dich geben muß.

 

Der Versuch, den Gevatter Tod von den Qualitäten des Lebens erzählend zu überzeugen, ist paradox, weil er nun einmal dafür steht, genau dieses zu beenden. Trotzdem plädiert das Ich an dessen Humanität, zählt unermüdlich die sonnigen Seiten der Existenz auf und leistet Überzeugungsarbeit. Um wenige Zeilen später  einzuräumen, dass man sich wohl mit seinem Eintreffen, irgendwann, arrangieren müsse.

Aber „wie“ er sich nun die einzelne Seele holt, darüber wird man doch verhandeln dürfen? Die naive Kleinmädchenstimme klingt in diesem Gedicht noch einmal besonders eindringlich an, und mit Berücksichtigung der brutal-sinnlosen Ermordung Lili Grüns wenige Jahre später, wirkt der Text wie eine unheilvolle Vorausschau auf ihren eigenen Tod. Es ist immer problematisch, ausgehend von fiktionalen Texten, Bezüge zur Biographie der einzelnen Autor/innen herzustellen. In diesem Fall erscheint es schwierig, keine Todesahnung der Autorin hinein zu interpretieren, zumal Lili Grün zusätzlich zu ihrer politischen Gefährdetheit als Jüdin, an einer schweren Tuberkulose litt, die trotz Kuraufenthalte nicht austherapierbar war. Sie muss sich dementsprechend ihrer eigenen Sterblichkeit verstärkt bewusst gewesen sein, und obwohl die empfundene existenzielle Sinnlosigkeit im „Sein zum Tode“ im ersten Teil des Gedichts zunächst in ein „Sein zum Leben“ umgewandelt wird, bleibt die Gewissheit, dass alles Schöne zerstört werden wird. Warum das so sein muss, übersteigt den menschlichen Verstand.

Mit dem Tod lässt sich nicht flirten, egal wie charmant man zu ihm spricht. Nicht einmal weibliche Schüchternheit kann den „vermummten Herrn“ davon überzeugen, seine Verkleidung abzulegen und wenigstens mit offenen Karten zu spielen. Dass der Tod im Nationalsozialismus unzählige folgsam-begeisterte Helfer/innen finden konnte, scheint aus heutiger Sicht unvorstellbar. Einspruch? Einspruch! Betrachtet man die Gedichte Lili Grüns als Ganzes, fällt unmittelbar auf, worunter das lyrische Ich am meisten leidet:

Es sind die das Subjekt einengenden gesellschaftlichen Arbeits- d.h. Alltagsstrukturen, die angepasste, unreflexive Bürger/innen hervorbringen. Lili Grün benutzt ihre literarischen Fähigkeiten, um sich „Luft“ zu machen und ihren Sehnsüchten einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Ihre subtile Kritik an bestehenden sozialpolitischen Verhältnissen ist zeitlebens auf zu wenig Resonanz gestoßen, um das Bewusstsein der Massen zu verändern. Vielleicht hatte ihre Lyrik auch gar nicht diese Absicht, Literatur muss ja nicht forciert politisch sein. Möglicherweise würde sie auch ihren poetischen Glanz verlieren, aber eine Debatte darüber führt zu weit. Was ich betonen möchte ist deren erschreckende inhaltliche Aktualität. Die Tatsache, dass wir die beklagte subjektauslöschende Wirklichkeit in den thematisierten abgeschlossenen Systemen als unsere eigene erkennen könnten, wenn wir noch einen Rest an widerständigen, belebenden, liebenden und wütenden Emotionen fänden, die uns darüber bewusst werden ließen.

Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han charakterisiert das Gefühl der Wut in der Abhandlung „Müdigkeitsgesellschaft“ als „ein Vermögen, das in der Lage ist, einen Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen“. Ohne energetische Wut fehlt nicht nur die Kraft auf gesellschaftliche Missstände zu reagieren, sondern bereits die (emotionale) Fähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und eine Veränderung bestehender Verhältnisse herbei zu führen.

Lili Grün besaß (noch) genügend wütende Sehnsucht, um wunderbare Lyrik entstehen zu lassen. Poetische Texte aus einer vergangenen Zeit, die uns einen (kritischen) Blick auf die Gegenwart geben, wenn wir ihn denn umherschweifen lassen.

 

„Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl“ (Kurt Wolff)

Auf diesen Satz von Kurt Wolff einen neuen Anfang setzen. Nicht, dass ich prinzipiell etwas gegen Zahlen hätte. Nein. Sie spielen heutzutage nur eine zu große Rolle, nicht allein im Verlagsgeschäft. Die Zahlen müssen stimmen, an der „Wahrheit“ der Worte darf gezweifelt werden. Zahlen stehen fest, zeigen „Tatsachen“ auf, die in ihrer Unanfechtbarkeit eine Art beruhigenden Boden unter den Füßen darstellen. Da ist etwas, woran man sich halten kann, kein beunruhigendes „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) durchbricht das bestehende System. Warum auch? Für Beunruhigung sind die Worte zuständig, die uns in Sätze gefasst, immer wieder eine neue Sicht auf die Welt, mitten in ihr, geben.

Mein Blog soll eine Bühne für Sprache sein. DER Ort einer marginalisierten Spezies, der hier alle Redezeit der Welt eingeräumt wird. Denn die Auseinandersetzung mit (guter) Literatur braucht Zeit, an der es nach den Worten der Schriftstellerin Lili Grün bereits in den 1920-ern  gefehlt hat. Sehnsuchtsvoll-scharfsinnig bemerkt sie in ihrem „Tagebuch“:

„Ich möchte so schrecklich gerne wissen, wie das früher war, als es nach Aussagen einiger maßgebender Persönlichkeiten noch Menschen gab, die Zeit hatten! Heute kenn‘ ich nur noch Leute, die mich furchtbar verachten würden, wenn ich es wagen würde, anzugeben, daß ich manchmal Zeit habe oder zumindest mir die Zeit suche, aus dem Fenster zu sehen und ein bißchen zu träumen, ziel- und planlos spazierenzugehen oder ähnlichen Unfug zu treiben. Ein Mensch, der nicht gehetzt, gejagt, übernervös und stets unausgeschlafen ist, hat keinen Chic, kein Format und keine Existenzberechtigung!“ (aus: Grün, Lili. Mädchenhimmel! Berlin, 2014. Aviva Verlag)

Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem oft nicht einmal mehr der kurze Reflexionsmoment bleibt, um sich darüber bewusst zu werden, dass es uns an Zeit mangelt. Eigentlich eine ganz gute Verlustverdrängungsstrategie, eine Entwicklung hin zum emotionslosen Arbeitstier. Wünsche nach einer anderen, früheren, besseren Zeit, wie sie Lili Grün geäußert hat, kommen auf diese Art erst gar nicht auf. Dabei sind Wünsche, die gerade im Reflexionsmoment, im Augenblick des ganz-bei-sich-Seins entstehen, so ungemein wichtig um ein eigenständiges Denken zu entwickeln. Vielleicht wäre der Holocaust verhindert worden, wenn sich Lili Grüns allgemeiner Wunsch nach mehr Gedankenzeit erfüllt hätte. Vielleicht hätte ihr gewaltsamer Tod im Konzentrationslager Maly Trostinec in Weißrussland niemals stattgefunden, weil ideologisch-mordende Massenbewegungen die Geister mit individuell entstandenen Einsichten nicht beeindrucken können.

Die bereits angekündigte „Bühne“ soll besonders denjenigen Stimmen in der Literatur ein Ort der Ausdrucksmöglichkeit sein, einen öffentlichen Raum für ihre eigene Performanz geben, die im literaturgeschichtlichen, historischen Gedächtnis aufgrund äußerer Umstände, politischer Verfolgung und Unterdrückung in Vergessenheit geraten sind. Sicher wird dabei die weibliche Stimme, das weibliche schreibende Subjekt eine besondere Rolle spielen. Achtung! Dies ist kein reiner Feminist/innenblog! Aber er hat, wie im Untertitel angekündigt, „Politik im Blick“. Und dazu gehört das weibliche, unterdrückte Schreiben ebenso untersucht, wie das männliche. Mit dem Unterschied, dass bei der Frau immer schon eine verschärfte Unterdrückung (Patriarchat, meint, soziale Rolle der Frau in der Familie+jeweilige Staatsform) stattgefunden hat. Nicht ohne Grund sind uns z.B. kaum Schriften schreibender Frauen aus der Antike oder dem Mittelalter bekannt. Dementsprechend gibt es Nachholbedarf beim Entdecken unbekannter Autorinnen, beim Ausgraben verschütteter Gedanken, die eine andere Sicht auf sozialpolitische Umstände geben. Ob der „Geist der Erkenntnis“ nach Hegel seine Stufen in einer Aufwärtsbewegung nimmt, oder immer wieder bis heute unweigerlich ins Stolpern gerät, sprich: unsere Welt wirklich eine bessere, „vernünftigere“ geworden ist, gilt es zu untersuchen. Auf Lili Grüns thematische Aktualität habe ich bereits verwiesen, ihr Wunsch nach mehr Zeit, und der Berechtigung, sich diese ohne Gesichtsverlust zu nehmen, ist ohne weiteres in unsere Gegenwart übertragbar. Ihre Sehnsucht nach einer Existenzberechtigung, ohne zugleich eine ökonomisch messbare „Leistung“ vorweisen zu müssen, weil der Mensch, mit Kant gesprochen, seinen Wert immer schon in sich selbst trägt, geht im Zahlenrausch unserer kapitalistischen Gesellschaft unter.

Aber Zahlen können ihre Anziehungskraft verlieren. Die Alternative zu ihnen muss nur stark genug aufleuchten. Denn schließlich sind wir alle Konsument/innen, und wenn das neue Angebot attraktiver erscheint als das alte, dann schlagen wir doch zu, oder? Vielleicht machen die vorgestellten literarischen „Schätze“ im Blog „Literatur(kritik) mit Politik im Blick“ dabei ganz beiläufig die unbekannte Epoche wieder lebendig in der Menschen noch Zeit hatten und lässt einen Daseinszustand aufscheinen, an den sich niemand wirklich erinnern kann. Solange er in der Phantasie einzelner besteht, gibt es jedenfalls die Möglichkeit, ihn in der Literatur herbeizuschreiben, um seinen fiktionalen, revolutionären Hauch von Freiheit zu spüren. Damit wir uns, plötzlich übermütig-mutig geworden, im Alltag von Zeit zu Zeit darin aufhalten.

 

 

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