Monats-Archiv:Oktober, 2014

Durchatmen! Und dann: springen. Elfriede Jelinek. rein Gold.

Brünnhild:

rein Gold. Elfriede Jelinek. Quelle: Rowohlt Verlag

rein Gold. Elfriede Jelinek.
Quelle: Rowohlt Verlag

„Ich versuche also zu präzisieren, das ist ein sehr delikates Gebiet, es fällt mir schwer. Also. Papa hat sich diese Burg bauen lassen, und jetzt kann er den Kredit nicht zurückzahlen. Eine Situation wie in jeder zweiten Familie. Die Leichen von Werkzeugen und Maschinen sind weggeräumt, die Riesen haben die Schaufelbagger ihrer Hände eingesetzt, was ihren ursprünglichen Träumereien sicher nicht entsprochen hat. Und was haben sie dafür gekriegt? Was war ihre Leistung? Was ihre Bezahlung?“

Beim Lesen von rein Gold (Rowohlt Verlag, 2013) habe ich mich immer wieder zwischendurch gefragt: warum bespreche ich ausgerechnet einen Text von Elfriede Jelinek? Warum tue ich mir diese Zumutung an?

Vielleicht, weil gute Literatur manchmal ein schmerzhaftes Kribbeln erzeugen muss, und man dieses nervtötende Gefühl dann eben einfach zu ertragen hat. Wenn man denn auf lange Sicht gesehen einen Mehrwert aus der Lektüre ziehen möchte. Wenn überhaupt etwas bleiben soll. Jetzt ist bereits ein Begriff gefallen, der uns direkt hinein führt in die Jelineksche Sprachkakophonie, in einen ununterbrochenen, nasskalt-anklagenden Satzfluss zwischen Vater Wotan und Tochter Brünnhilde.

Karl Marx‘ Mehrwerttheorie aus dem Kapitalund WagnersRing des Nibelungen sind nur zwei der vielen Intertexte, die diesen monologischen Dialog zu einem eigentlich undurchdringbaren Bedeutungsteppich machen. Was das Gewebe zusätzlich semantisch aufwertet, sind die politischen Bezüge auf die Gegenwart.

Aber jetzt von vorne. Handlungsgerüst ist, wie im Anfangszitat zu erkennen, ein Gespräch zwischen Tochter und Vater. Brünnhild klagt ihren Erzeuger an, unverantwortlich ein Haus erbaut zu haben, ohne den Kredit jemals tilgen zu können. Von nun an ist er den Mechanismen des freien Marktes, der Diktatur des Geldes hilflos ausgeliefert und Täter und Opfer zugleich. Er ist einerseits der Willkür der Banken ausgesetzt und andererseits schuld daran, dass die engagierten Leiharbeiter nur einen Hungerlohn für die geleistete Arbeit bekommen. Vater Wotan hat sich nach Meinung der Tochter um keine Verträge gekümmert; als notorischer Fremdgänger nicht einmal um den Ehevertrag:

(…)“obwohl du es eigens aufgeschrieben hast, wolltest du nichts davon halten, keine Verträge, keine Lohnabsprachen, keine Leihverträge, keinen Leasingvertrag, keinen Ehevertrag, da fängts schon mal an, nebenbei bemerkt!“

Die Untreue, die Brünnhilde ihrem Vater vorwirft, ist eine universelle. So wie er sich schwächlich vom kapitalistischen System hat verführen lassen und jetzt bis zum Hals in Schulden steckt, vögelt er wahllos Frauen, betrügt seine Ehefrau und nicht zuletzt auch seine Tochter.

Dabei hat er das Haus doch nur für seine Frauen gekauft, weil die das so wollten!

Kategorien wie „Geld“ und „Frau“ gehen bereits auf den ersten Seiten von rein Gold eine Symbiose ein. Das klassische weibliche Motiv der Verführung aus dem Alten Testament, die böse Eva mit dem Apfel ist es einmal wieder, die den Mann zu verhängnisvollen Taten antreibt. Weil er ein echter Held sein möchte. Dabei muss ihm doch klar sein, dass „die Frau die Verderbteste und das Verderblichste“ zugleich ist:

„Als wäre eine Frau Geld wert, als wäre jemals eine Frau ihr Geld wert gewesen, nein, fremdes Geld natürlich, nicht ihr eigenes, nur selten ihres, die Frau ist immer Fremdwährung wert, dafür währt sie nicht lang, ihre Jugend, in der die Frau noch was wert ist.“

Der auf seine Körperlichkeit reduzierte Wert einer Frau ist vergänglich, weswegen sich die Helden in der heutigen Zeit auch nicht mehr allein auf die Eroberung von Frauen mit Haltbarkeitsdatum konzentrieren. Es sind diejenigen, die eine Leistung vollbringen, die außerhalb der Wirkkraft des Geldes steht. Gemeint sind die „Helden“ des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU):

„Feinde des deutschen Volkes! Sieg! Nicht ihr seid gemeint. Nehmt euch das Leben! Nehmt andren das Leben! Es steht euch zu! Nehmt es euch! Nehmt euch diese Leben jetzt! Fahrt mit euren wendigen, windigen Fahrrädern dorthin, wo ihr anderen und danach euch das Leben nehmen könnt! Now! Es ist euch gelungen, was noch nie gelungen ist, mehr als zehn Jahre zu morden, das ist eine Leistung in einer Zeit, in der Leistung normalerweise nichts mehr zählt, sondern nur noch das Geld.“

Und die Heldenmädchen sind diejenigen, die übrig bleiben und sagen: „Ich bin die, die ihr sucht“. Die überlebenden Schuldigen, die ihre im Kampf gestorbenen Helden beweinen. Wotan wirft seiner Tochter vor, dass es die Frauen sind, die aus ihrem Schlafzustand erwachen müssen, es unterlassen sollten, sich in Helden zu verbeißen:

„Deutschland erwache! Wieso erwachst du nicht? Weil auch die Götter schlafen? Weil der Lieblingsstar krank geworden ist? Weil eine riesige Sendung, die heller leuchtet als mein Auge am Himmel, heute ohne ihn auskommen muss?“

Heldentum als ein durch und durch negativer Begriff. Hier wird er bis zum Letzten durchexerziert. Helden als Kriegstreiber und die Frau als Beute; aber auch eine, die sich zur Beute machen lässt. Weil sie bis zuletzt hofft, wie Brünnhild betont, einen Freier zu finden, „der mich nicht freit, sondern frei macht.“ Die Liebe als Utopie von der es wie das Kapital zuviel gibt, aber die trotzdem keiner hat.

Übrig im Kapitalismus bleibt am Ende nur das Geld, das sich von seinem treuen „Steigbügelhalter“ Ware trennt. Es vergisst, dass es ohne die Ware niemals erschaffen worden wäre:

„(…) so werden die Warenverhältnisse verschwinden, und die wahren Verhältnisse treten aus dem Schatten, Geld bitte übernehmen Sie, ja, gern, ich übernehme, ich bin die einzige sich selbständig bewegende Substanz (…)“

Selbstständig bewegend und sich verselbstständigend; bis niemand mehr weiß, was da gerade passiert mit dem eigenen Kapital auf der Bank. Es stimmt nachdenklich, wenn Epen aus dem Mittelalter, wie z. B. das Nibelungenlied, mühelos dazu benutzt werden können um die aktuelle Bankenkrise zu veranschaulichen. Die Menschheitsgeschichte kann selbst für überzeugte Optimisten nicht mehr als Fortschrittsgeschichte beschrieben werden. Für Göttervater Wotan besteht unsere Gesellschaft wie immer schon aus Schlafwandlern und fremdgesteuerten Blindschleichen:

„Sie sind ja noch blinder als ich. Ich habe wenigstens noch ein Auge. Die haben gar keins mehr, das nicht an einen Bildschirm, erhältlich in den verschiedensten Größen, von ganz klein bis ganz groß, geheftet, genagelt oder unter Turnschuhen zertreten worden wäre. Selber im Gedränge ihre Turnschuhe verlieren. Die haben kein Auge mehr übrig, für nichts.“

Angekommen in der Gegenwart verabschiedet sich Wotan mit diesen Worten von seiner Tochter Brünnhild, die unerschütterlich an die Liebe zu ihrem Helden glaubt und auf ihn als Erlöser hofft. Solange sie in der Warteschlange weiterhin so grandiose Texte spricht, sollten wir sie nicht daran hindern, sondern einfach stehen bleiben und lauschen denn:

Bei rein Gold von Elfriede Jelinek ist es wie mit dem Vertrauen auf die wahre Liebe. Der Sprung in den Textfluss hinein erzeugt einen seltenen aber beunruhigenden Erkenntnisgewinn. Ohne dass man letztlich weiß, wohin er einen treiben wird.

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Mit wütender Kleinmädchenscham gegen die Regeln im Schlachthaus von Herren Umlauf und Co.

In welchem Alter realisiert ein Mensch, dass das Leben eine andauernde Prüfung darstellt?

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

Marlene Streeruwitz. Nachkommen.
Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

In Marlene Streeruwitz neuem Roman Nachkommen läutet diese Erkenntnis den Übergang zum Erwachsensein ein, in dem keine Mutter der Welt die Protagonistin noch vor der grausamen Realität beschützen kann.

„Nachkommen“  thematisiert den Verfall der Literatur im Kapitalismus, einer „Gesellschaft des Spektakels“. Aber es geht noch um viel mehr. Der Text kreist um die alten, ewig bestätigten Macht(ungleich)verhältnisse nicht nur zwischen den Menschen im Allgemeinen, sondern zwischen Mann und Frau.

Protagonistin ist eine 20-jährige Autorin, die es mit ihrem Romandebüt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Eine lebenskluge Person, die auf die oft gestellte Frage, warum sie denn Literatur mache, dem überforderten Reporter antwortet: „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es eine Suche nach dem Lebendigen. Literatur.“

Auf dieser bitter notwendigen Suche erfährt sich die Protagonistin selber immer mehr als jederzeit auslöschbares Subjekt, und der verfasste Roman entpuppt sich nicht als der erhoffte Halt in der grotesken Wirklichkeit der Bücherwelt. Denn hier wird über Bücher verhandelt, nicht über Romane. Fiktionale, politisch motivierte Geschichten interessieren nicht, interessant ist die Person, die die „kleine Odyssee“ verfasst hat, und darüber hinaus eine junge, schöne Frau ist.

Beklemmend wirkt es, wenn ein anerkannter Verleger betrunken an den Messestand der Autorin wankt und ihr all seinen persönlichen Lebensfrust mit den Worten entgegenschleudert:

„Ich mag euch junge Frauen nicht. Ihr glaubt wirklich, für euch gilt gar nichts. Keine Regeln. Nichts. Ihr glaubt wirklich, ihr könnt mit der Welt machen, was ihr wollt. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könnt mit eurem Geschreibsel einen Eindruck machen.“

Wie kann sie es wagen, sie, Nelia Fehn, die Tochter einer früh verstorbenen feministischen Autorin, mit ihrem Geschreibsel „alles zu ruinieren“? Was genau der Verleger namens Umlauf mit dieser Anschuldigung meint, bleibt mehrdeutig. Besteht der Fauxpas darin, dass sich die Autorin einen anderen Verleger für ihren Erstling ausgesucht hat? Eine andere Vaterfigur, die keine ist aber gerne eine wäre und die selbstständige Autorin durch sein Verhalten nur zu einem unmündigen Kind degradiert? Oder betrifft die Anschuldigung sie direkt, als schreibende Frau? Eine Frau, die ihre Stimme erhebt, und in ihrer eigenen, nicht männlich dominierten Sprache versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben. Ein Ausbruch aus den allgemein anerkannten „Regeln“ des Patriarchats.

Beunruhigend ist es für die alteingesessenen Herren Verleger, wenn sich eine junge, talentierte Frau zu Wort meldet, die gar keine Gedanken daran verschwendet, mit einem von ihnen ins Bett zu gehen. Stattdessen trinkt Nelia Fehn nicht einmal Alkohol, ist Vegetarierin und hält beim Fototermin auf der Messe ein wenig freundlich blickendes Gesicht in die Kamera, weil sie nicht „eines dieser Tausenden grinsenden Frauengesichter“ sein möchte, „die im Bilderdienst des Kapitalismus begraben“ werden. In den Augen der Männer ist sie zickig, nicht domestizierbar, weil sie ihren eigenen Kopf hat. Die viel gefürchtete Wut der Mutter in sich trägt, die sie zwar einsam, aber auch kreativ macht. Eine so ganz unweibliche Emotion und der Grund, warum Nelia ohne leiblichen Vater aufwächst. Brutaler noch: wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen, wäre sie niemals geboren worden. Mit wütenden Frauen ist nicht gut Kirschen essen. Dann lieber eine vierzig Jahre jüngere Geliebte, die mit blondierter Haarverlängerung zum Herrn Professor aufblickt und das Bild der unkomplizierten, sanftmütigen Frau verkörpert.

Mit diesem Vater möchte die Autorin eigentlich nichts zu tun haben. Auf der Buchmesse in Frankfurt taucht er jedoch plötzlich auf, ein Totgeglaubter, der ihr gegenüber seine Besitzansprüche äußert. Weil er doch auf seine Tochter stolz ist. Einen Menschen, den er niemals kennen lernen wollte.

Wiederum ist es die Wut, die Nelia widerständig macht und trotzdem nicht verhindert, dass sich beim Fernsehinterview die verinnerlichte, leidige „Kleinmädchenscham“ in ihr ausbreitet. Nur weil sie es gewagt hatte, vor der Kamera eine authentische, also ungewöhnliche Aussage zu machen. Eine Aussage, auf die sie stolz hätte sein können, wenn sie sich nicht gleichzeitig sicher gewesen wäre, dass das kleine, unerfahrene Mädchen gegen die Regeln des „Schlachthauses“ verstoßen hatte:

„Da müssen die durch, wurde da gesagt. Wenn sie (Mädchen) mitmachen wollen, dann müssen sie das aushalten, wurde da gedacht. Die müssen das auch lernen. Einführungen in die Regeln des Schlachthauses wurden da abgehalten. Seminare der Selbsterniedrigung waren das und durchaus für alle.“

Wer gegen die Regeln à la Umlauf und co. verstößt, wird schneller als Frau denkt, zum Verschwinden gebracht. Vegetarierinnen sind da besonders gefährdet. Kein Schlaraffenland für diejenigen, die aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten und dann nicht einmal wenigstens ihr eigenes junges Fleisch den Schlächtern zum sexuellen Genuss anbieten.

Wer diese Romanbesprechung liest mag denken, Marlene Streeruwitz sei eine Männerhasserin. Das ist sie nicht. Denn die meisten Frauen kommen auch nicht wirklich gut weg. Sympathisch sind nur diejenigen, die sich mit der Autorin auf irgendeine Weise verbünden und ihr ihre Solidarität bekunden. Wenn der Feminismus nach diesem grandiosen Text auch in einer aussichtslosen Sackgasse angekommen zu sein scheint, wird doch eine Möglichkeit sichtbar, wie sich die schreibenden Stimmen der Frauen gegen den Schlachthauswahn behaupten könnten, um mehr als bloß darin zu existieren:

Durch eine aufkeimende Solidarität untereinander, die den allgemeinen Konkurrenzgedanken ausschaltet und alteingesessene Männerklüngeleien aufmischt.

Die Protagonistin ergreift zunächst die Flucht vor dem „Schlachthaus“. Doch wir können uns sicher sein, dass die Wut ihrer toten Mutter in ihr weiterlebt und sie dazu antreiben wird, einen weiteren Roman zu schreiben.

Weil sie gar nicht anders kann, wenn sie denn am Leben bleiben möchte. Ein Zombiedasein wie das ihres Vaters wird sie niemals führen, da sie sich im Gegensatz zu ihm nicht im Unbewussten verliert, sondern sich den tagtäglichen Lebensprüfungen wie eine Erwachsene stellt. Weil sie zum Lebendigsein dazugehören:

„Es ging am Ende darum, wer im Leben am Leben bleiben hatte können und wer da schon tot gewesen war. Dieser Mann war einer von diesen unbewussten Zombies. Dieser Mann war ein Vampir und brauchte das Blut junger Frauen. Die Mami hatte ganz einfach recht gehabt.“

Marlene Streeruwitz hat es mit ihrem Roman leider nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft. Es ist selbsterklärend, warum nicht.

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