Von Vorzeigeversorgern und Selbstversorgerinnen. Doris Knecht. Wald.

Doris Knecht. Wald.

Doris Knecht. Wald.

In der Kindheit ist der Wald meist ein dunkler, unheimlicher Ort. In der Phantasie lauern zwischen den Bäumen wilde Tiere, Hexen und Zauberer. Und trotzdem verbringt man gerne spielend seine Freizeit dort, weil die frische Luft die Lungen durchströmt und sich ein Gefühl von entspannter Schwerelosigkeit breitmacht, das in der Stadt nicht aufkommt. Im neuen Roman „Wald“ der österreichischen Autorin und Kolumnistin Doris Knecht ist er für die Protagonistin die einzige verbliebene Rückzugsmöglichkeit. Marianne, die sich selbst Marian nennt, weil der Name für sie „geheimnisvoll, androgyn, genderneutral“ klingt, und sie genau so erscheinen möchte vor den anderen, den Männern und Frauen in der Modebranche und privat, überlebt die Wirtschaftskrise physisch nur knapp, indem sie sich in das Haus ihrer verstorbenen Tante zurückzieht. Auch seelisch ist sie ein Wrack und erfährt in der Zurückgezogenheit der Voralpen zum ersten Mal eine bewusste, wirkliche Einsamkeit, die Knecht in gewohnt scharfgeschliffener Sprache beschreibt:

„Sie gibt sich keine Mühe, zurück in den Traum zu finden. Hat ohnedies keinen Sinn. Er ist dahin. Es war nur geträumt. So gesehen war das Klacken ein Segen: es hat sie aus dem Traum geschleudert, hat den Traum schlagartig beendet, minus den Schmerz, den langsames, allmähliches Erwachen mitunter verursacht, wenn man noch glaubt, das sei es, das sei das eigene, echte Leben und es sei voll mit warmen, netten Menschen…“

Marian friert in ihrer provisorischen Behausung, weil ihr das Holz fehlt, um den Ofen zu beheizen. Ihr fröstelt aber auch, weil da kein warmer Körper ist, an den sie sich drücken könnte, keine warmherzige Stimme, die ihr sagt, dass alles gut werde, sie nicht alleine sei. In Dauerschleifen denkt sie über ihre ehemaligen Lebensgefährten nach und assoziiert Verstandesschärfe mit Attraktivität, die ihr Exfreund Bruno ausstrahlte, und dabei gleichzeitig „kühl“ war. Ganz anders Oliver, ein „warmer“ Verlobter, aber nicht für immer und ewig, weil er eben irgendwann eine andere findet. Marian hadert mit ihrem Absturz, eine ehemals selbstbewusste Modedesignerin mit eigenem Laden und Angestellten. Doch es sind vor allem die falschen Männer, die sie nun in den einsamen Wald getrieben haben, in welchem sie Dinge lernt, von denen sie sich früher als überzeugte Städterin nicht im Traum hätte vorstellen können, dass sie dazu in der Lage wäre. Zum Beispiel ein Reh zu schießen, Forellen zu fangen und auszunehmen, oder Hausmäuse mit der Falle zu jagen:

„Marian hatte Mäuse kleiner in Erinnerung gehabt, zarter, süßer. Möglicherweise sind die Mäuse in der Stadt ja tatsächlich kleiner als Landmäuse. Auch Marian war zarter und süßer gewesen damals, elegant und mitunter exquisit, sie hatte, wenn es die Situation erforderte, zickig und kompliziert sein können, anspruchsvoll und verwöhnt, obwohl sie das alles im Grunde schon damals gar nicht war. Aber als sich einmal der Verdacht bestätigte, dass sie eine Maus hatten, im Apartement in der City, hatte sie darauf so reagiert, wie man es von einer Frau wie ihr erwarten konnte: mit kontrollierter Hysterie. Eine Maus! Um Himmels willen! Gekrabbel, Dreck, Bakterien, angeknabberte Lebensmittel, zernagte Schuhe, ruinierte Abendkleider.“

Als zielstrebige Frau hatte sie sich die Männer erjagt, sich dann aber allzuschnell selbst zur Beute machen lassen. Naiv ihr Herz, aber vor allem ihren Körper verschenkt. Wie mit ihrer großen Liebe Bruno damals, der es verstand, sie berechnend bei der „Stange“ zu halten:

„…und dabei nie ganz heranlassen. Sie mit Häppchen füttern, vielen Häppchen, Zuneigungshäppchen und Interessehäppchen und Häppchen von Foucault, Derrida und Chomsky, mit ganz kleinen Brocken vom großen Wir und ein paar Bröseln Zukunft, gerade immer so viel, dass sie davon nie satt wurde.“

Im Wald wird sie dann plötzlich zum unterworfenen Wild für Franz, den im Dorf angesehenen Gutsbesitzer, der sie beim Wildern erwischt und seine Chance auf sexuelle Abwechslung wittert. So lässt sich Marian auf den starken „Zupacker“ ein, einen Mann, den sie im früheren Leben niemals angerührt hätte, der ihr als „Versorgertyp“ und „Geschäftemacher“ aber gerade zur rechten Zeit über den Weg läuft. Er bringt ihr Holz zum Heizen und Nahrungsmittel. Was sich zunächst wie Prostitution anfühlt, ihre „Kapitulation“, entwickelt sich zu einem Kompromiss, der nicht nur unangenehme Seiten hat, denn auf Franz ist Verlass. Er ist die starke Schulter, die sie im anderen Leben niemals akzeptiert hätte und die sie vielleicht früher schon gebraucht hätte.

Die Anklage der Dorfbewohner/innen, dass sie eine „Hur“ sei, nur weil sie sich endlich „vom richtigen Mann vögeln“ lässt, einem wie Franz, der von nun an in ihrem „Leben herumstocherte und umorganisierte und zupackte“, macht ihr nichts aus. Weil Prostitution für sie zum Leben dazugehört – egal ob auf der Arbeit, in der Ehe oder eben alleine in der Natur. Sie braucht Franz zum Überleben und ihr neues Geschäftsmodell geht auf. Ihre schmerzhaften Erinnerungen an den selbstverliebten Philosophen Bruno, für den sie jahrelang das perfekte Modemädchen mit romantischer Leidenschaft gespielt hatte, letzten Endes aber nur benutzt worden war, verblassen, und sie schöpft eine neue, viel authentischere Kraft. Der „Absturz“ in die Natur zwingt die Protagonistin den Boden unter den Füßen in all seiner Härte zu spüren, und endlich der Suche nach dem eigenen „Wer bin ich“ Raum zu geben. Fern von künstlicher Selbstinszenierung, romantischem Prinzessinnengetue und Gefallsucht. Marian lässt sich nicht mehr zurichten, spielt keine Rolle mehr, deren Hülle aus an sie herangetragenen Normen besteht. Weiblichkeitsnormen, Modemagazinideale. Früher rechtfertigte sie ihre regelmäßigen Hyaluronaufspritzungen der Haut mit der Überzeugung, dass sie das ja für sich mache. Im Haus im Wald korrigiert sie diese Selbstlüge:

„Ich mach das nicht wegen dem x oder dem y oder den Männern überhaupt, ich tu das für mich, ich mache das, weil ich mir so besser gefalle. Das und die Spitzenwäsche und die grotesken High Heels, alles nur für sich selber, wie es auch alle anderen Frauen behaupteten. War natürlich letztlich alles total in den Sack gelogen. War überhaupt nicht wahr, nichts davon oder höchstens an der obersten Schicht der Oberfläche.“

Die zunächst nur schwer zu ertragende Einsamkeit in der Natur bringt die Protagonistin zum Nachdenken darüber, was sie eigentlich vom Leben erwartet, wer sie wirklich sein möchte, und der „Notnagel“ Franz wird zum unterstützenden Halt für einen emanzipierten Neuanfang. Er gibt ihr die Rückendeckung, die sie meinte in ihrem ehemaligen Entwurf als pseudostarke, unabhängige Frau nicht annehmen zu dürfen und die nicht nur für Männer immer schon Grundlage eigener Erfolge ist. Marians Handeln zeigt, dass Emanzipation nicht heißt, als einsame Steppenwölfin gegen den Rest der Welt antreten zu müssen, sondern Hilfe anzunehmen, wenn sie ehrlich gemeint ist.

Die Autorin Doris Knecht versteht es meisterinnenhaft mit ihrem soften Jelinek-Stil unaufdringlich Gruselschauer beim Lesen zu erzeugen, indem sie Machtverhältnisse entlarvt, in denen sich die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschieben, die Sehnsucht nach menschlicher Wärme in einer unterkühlten Gesellschaft das Handeln beider Geschlechter dominiert. Letztlich geht es in den Wäldern nicht mehr um Macht und Unterwerfung zwischen den Menschen, sondern um den Versuch, einen Neuanfang gemeinsam zu schaffen. Einen Neuanfang, der mithilfe eines sauerstoffdurchspülten Kopfes am besten zu meistern ist. Der vermeintliche „Rückschritt“ in die (kindliche) Natur ist für Marian eine Chance zu erfahren, ob es die echte Marian überhaupt gibt, und wenn ja, ob sie sich zeigt:

„Sie grübelt viel darüber nach: was sie spielt und was sie ist. Und ob sie etwas geworden ist oder gerade wird, und wenn ja, dann: was genau. Wer. Sie denkt darüber nach in den Nächten, in denen sie wachliegt, und während sie Äpfel schält und schneidet und entkernt und während sie an sonnigen Tagen am Fenster sitzt und das Licht nützt, um ihre Sachen zu flicken. Wer ist sie, wer ist sie noch. Was ist übrig von der alten Marian, und: War die alte Marian überhaupt echt?“

 

 

 

Verlorene Jungs – Perfekte Mädchen. Laurie Penny. Unsagbare Dinge.

Laurie Penny. Unsagbare Dinge. Edition Nautilus 2015.

Laurie Penny. Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution.

Die früh verstorbene Pop- und Soulsängerin Whitney Houston ist nun schon über drei Jahre tot. In ihren Liedern ging es um Liebe, besonders um die glückliche, die ihr privat verwehrt blieb. „Die bösen, alten Männer“, wie der SZ Autor Peter Richter aktuell im Nachruf auf ihre nun ebenfalls verstorbene Tochter Bobby Kristina Brown schreibt, die zeitgleich in den Achtzigern „über Tod, Hass und Kälte“ sangen, sind alle noch am Leben.

Zufall?

Die feministische Autorin und Journalistin Laurie Penny hat sich umfassendes vorgenommen, wenn sie im Vorwort ihres bei der Edition Nautilus erschienenen Buches, „Unsagbare Dinge“ (Sex, Lügen und Revolution) ankündigt, dass:

„Dieses Buch von Liebe und Sex in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen, von Gender und Neoliberalismus“

handelt. Konkreter heisst es:

„Es ist insofern feministisch, als es als Gegenmittel gegen die Kolonisierung unserer wichtigsten Leidenschaften durch Geld und Hegemonie eine feministische Politik progagiert.“

Pennys Text ist eine Polemik, geht also unverkrampft mit einem Thema um, das in der öffentlichen Debatte regelmäßig zu Herzattacken führt: FEMINISMUS.

Dabei fällt immer wieder auf, wie schwer er begrifflich zu fassen ist und wieviele Missverständnisse durch undifferenzierte Begriffsdefinitionen entstehen.

Was Feminismus nun zu leisten hat, bzw. was er leisten muss, betont Penny geschlechterübergreifend:

Feminismus ist für alle da„.

Es geht um die Freiheit beider Geschlechter, um mehr Menschlichkeit im öffentlichen und privaten Raum. Penny entlarvt heutige, als frei propagierte Lebensentwürfe als Lügengebäude:

„Man hat uns angelogen. Frauen meiner Generation wurde erklärt, wir könnten ‚alles haben‘, solange ‚alles‘ Ehe, Babys, eine Karriere im Finanzwesen, ein Schrank voller schöner Schuhe und völlige Erschöpfung war und solange wir reich, weiß, hetero und artig waren. Für einen solchen Lebensstil braucht man natürlich eine Armee von Kindermädchen und Putzfrauen, und niemand hat sich bisher die Mühe gemacht zu fragen, ob auch sie „alles“ haben können.“

Es sind Eliterechte einer weißen, heteronormativen Oberschicht, die als feministische Errungenschaften von der westlichen Politik gefeiert werden. Streng vorgegebene, ökonomisch sinnvolle Hamsterkäfige in denen alternative Lebensentwürfe nicht vorkommen. Was eigentlich, wenn wir etwas anderes wollen?

Auch den Männern geht es nach Pennys Analyse ähnlich:

„Jungen Männern dagegen wurde vorgegaukelt, sie lebten in einer schönen neuen Welt der wirtschaftlichen und sexuellen Chancen, und wenn sie zornig oder eingeschüchtert seien, wenn sie sich von den widersprüchlichen Erwartungen eingeengt oder verunsichert fühlten, wenn sie unter dem Druck litten, sich maskulin zu geben, Geld zu machen, dominant zu sein, viele schöne Frauen zu vögeln und gleichzeitig ein anständiger Mensch zu bleiben, dann seien an ihrer Not Frauen und Minderheiten schuld.“

Die Emanzipation des Mannes könnte Männlichkeitfassaden als solche entlarven und selbstentfremdete Männer ihre Identität finden lassen. Eine bewegliche, in schillernden Farben wäre das, versteht sich.

Penny betont, dass eine Zeit kommen wird, in der wir entscheiden müssen, „ob wir uns ändern, um in die Geschichte zu passen, oder ob wir die Geschichte ändern“. Mit Hannah Arendt gesprochen, endlich einmal wieder einen neuen Anfang setzen; aktiv handeln und nicht bloß reagieren:

(…) „selbst wenn wir die richtigen Kleider kaufen und unsere Arbeit gut machen und uns jeden Tag mit zusammengebissenen Zähnen dasselbe Lächeln aufs Gesicht zwingen, haben wir keine Garantie, dass man uns in Ruhe alt werden lässt, bis die Flut einsetzt.“

Also lieber gegen den Strom schwimmen und es endlich wagen, Raum einzunehmen. Sich laut und breit Gehör verschaffen.

Die Autorin zeigt einleuchtend und schöpft dabei aus eigenen Erfahrungen, was passieren kann, wenn junge Frauen (aber auch mehr und mehr Männer), ihren Anpassungszwang am eigenen Körper auslassen:

Essstörungen treten auf, wenn sich jugendliche Rebellion kannibalisiert.  (…) Mädchen rebellieren seltener als Jungen. Zu viel steht für sie auf dem Spiel. Wir wissen, dass man uns nicht nachgibt, wenn wir zornig werden, man hat uns beigebracht, unsere Wut nach innen zu richten, eher uns weh zu tun als anderen.“

Mädchen sind aufgrund ihrer sozialen Konstruiertheit viel häufiger brav und angepasst. Nicht nur gemäß der Modelmagazine müssen sie freundlich und schön sein, weil sie sonst von Grund auf zu den Verliererinnen gehören. Eine Frau ohne Lächeln auf den Lippen wird nach Penny zur Bedrohung und erscheint unperfekt. Lieber „isst“ sie sich deswegen selber auf und bringt sich so zum Verschwinden, als dass sie anderen mal ordentlich in den Hals beißt.

Damit muss jetzt Schluss sein:

„Ich will eine Meuterei. Ich will, dass Frauen und Queers und alle anderen, die unter den Gender-, Macht- und Eigentumsstrukturen leiden – und das sind die meisten von uns -, nicht weiter darauf warten, dass sie für ihr Wohlverhalten belohnt werden.“

Deswegen:

„Wehrt euch gegen das Brandzeichen Weiblichkeit, das euch schon bei der Geburt ins Fleisch gebrannt worden ist, und Teil eurer Marke sein soll. Wenn ihr Freiheit wollt, dann wehrt euch.“

Eine Form der Freiheit, die Penny näher beleuchtet, ist die sexuelle Freiheit – im Gegensatz zu (Cyber-)Sexismus.

Auch hier steht wieder das gesellschaftliche Stigma der „idealen Frau“ im Fokus der Betrachtung:

„Ich finde es unfassbar, dass die weibliche Lust immer noch dermaßen tabuisiert ist. Die breite Gesellschaft wehrt sich bis heute gegen die Vorstellung, dass Frauen und Mädchen Sex um seiner selbst willen haben wollen, statt ihn im Tausch gegen Geld, Status oder Sicherheit über sich ergehen zu lassen. Wir haben uns nicht nach Erregung, Exstase und Schweißgeruch auf der Haut zu sehnen.“

Frau hat dabei die undankbare Wahl zwischen „unschuldiger Frau“ oder „Schlampe“. Dabei soll sie sexy aussehen, aber bloß nicht auf die Idee kommen, ihre eigenen sexuellen Wünsche zu äußern. Wer das Röckchen zu knapp trägt ist letzten Endes selber Schuld an gewalttätigen Übergriffen. Beim Lesen habe ich mich öfter gefragt: hatten wir diese Diskussionen nicht schon unzählige Male? Sehr sehr ermüdend, aber umso wichtiger, sie immer wieder anzustoßen, weil sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, und Penny meint gerade auch die verbalen Attacken, oft verharmlosend dargestellt werden. Penny untermauert ihre Beobachtungen und eigenen Erfahrungen mit entlarvenden Aussagen von häufig in der Öffentlickeit stehenden Personen, wie z.B. dem amerikanischen Kongressabgeordneten Todd Akin, in denen deutlich wird, wie stark Sexismus die Handlungsfreiheit und sexuelle Entfaltung junger Frauen einschränkt.

Letztlich wird die Persönlichkeit eines Mädchens lediglich als „Schmuck“ behandelt und sollte kein Ausdruck von Handlungsfeiheit sein.

Verändern wir diesen Zustand, und stören uns nicht daran, auf Widerstand zu stoßen, gerade wenn es um die Veränderung der „natürlichen Ordnung“ geht:

„Immer wenn Menschen verhindern wollen, dass sich die Welt allzu sehr verändert oder überhaupt verändert, behaupten sie, diese oder jene Veränderung sei ‚unnatürlich‘.“

Dabei werden diejenigen, die die patriarchalisch aufgebaute „natürliche Ordnung“ stören, als „nicht normal“ abgestempelt, obwohl gerade sie oft glückliche Auslöser für gesellschaftliche Veränderungen sind.

Schließen wir uns zusammen und leben „unnatürlich“, weil wir doch alle so nicht glücklich werden, oder, Jungs? Fakt ist doch, dass:

„Fast die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch das Patriarchat Männer und Jungen ebenso unterdrückt (hat) wie Frauen.“

Geherrscht haben immer nur einige wenige Vaterfiguren, also macht euch auf den Weg, verlorene Jungs, und emanzipiert euch von eurer inneren Herrschaft der alten Patriarchen. Seid nicht enttäuscht darüber, dass Macht und Bequemlichkeit nicht einfach euch gehören, sondern lasst uns entdecken, dass:

„‚Männlichkeit‘, wie wir sie bisher sahen, in Wahrheit nur eine Fassade ist, dass ‚Männlichkeit‘ in Wahrheit fragil, verletzlich und verletzend ist, dass sie nichts weiter ist als Menschlichkeit.“

Arrangiert euch damit, dass Frauen nicht weiter bloß Objekt der Begierde, also „passiv bestimmt“ sein wollen. Das perfekte Mädchen wird sich mit der Rolle der Prinzessin nicht weiter zufrieden geben, weil die Hexerei viel spannender ist, selbst wenn uns bis jetzt deswegen gesellschaftlich nur die Ofentür bleibt. Überlegt selbst:

„Warum sollte ein kleiner Junge den hübschen Prinzen spielen wollen, wenn er ein Ritter oder Zauberer sein kann, ein Held oder ein Schurke, Superman oder Batman? Kleine Mädchen dagegen haben nur zwei Möglichkeiten: Wir können die Prinzessin geben oder die Hexe. Und wir wissen doch, was mit Frauen passiert, die unkontrolliert hexen. Geschichten zeigen Wirkung. Mädchen, die sich in der Welt orientieren, lernen nach wie vor, dass ihnen, sofern sie nicht das Liebesobjekt spielen wollen, nur die Ofentür offen steht.“

Die Autorin Laurie Penny. Foto: Jon Cartwright.

Die Autorin Laurie Penny.
Foto: Jon Cartwright.

Zauberer und Hexen könnten kreative Teams bilden, um die Welt freier, also menschlicher zu machen. Und auch Frauen dürften dem nachgehen, was sie lieben, wovon sie wirklich überzeugt sind. Auch wenn sie dann vielleicht manchmal ein bißchen weniger liebenswert erschienen, weil sie für die eigene Sache brennen würden und nicht nur für den Mann.

Ach. Warum hat Whitney Houston ihr grandioses Organ nicht dazu benutzt, ihre ganze enttäuschte Liebe durch Wut- und Hasslieder auszudrücken? Auch wenn sie dann zu den „bitches“ und nicht mehr zu den wunderschönen, leidenden, aufopferungsvoll-liebenden Diven gehört hätte. Ihrer Kunst hätte das bestimmt keinen Abbruch getan. Höchstens der allgemeinen Vorstellung von einer „idealen“ Frau.

Penny entscheidet sich mit ihrer wütenden Schreibe zum Glück für einen lebensbejahenden, konstruktiven Angriff. Ihr Text erschlägt die Leser/innen dabei fast, aber erzeugt durch den entstehenden Lektüreschmerz eine wohltuende Wirkung. Er ist in seiner Strukturiertheit seltsam strukturlos; verästelt, assoziativ, wissenschaftlich, emotional. Im argumentativen Chaos blitzt vielleicht etwas auf, was Ingeborg Bachmann oder Christa Wolf als „weibliches Schreiben“ bezeichnet hätten. Meint, eine Stimme, die sich bereits mit 28 Jahren freigeschrieben hat von etablierten, meist männlichen Vorbildern. Und wenn es nur ein Fitzelchen so ist. Damit kann die Revolution beginnen!

Einem selbstzerstörerischen „iiiiiiiiiii, will always love you……..“ der Whitney Houston setzt die Autorin deswegen selbstbewusst entgegen:

aber nicht über meine Leiche.

 

 

 

Kinderlos glücklich! Sarah Diehl. Die Uhr, die nicht tickt.

Diehl. Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift.

Diehl. Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift.

Das Märchen vom angeborenen Mutterinstinkt gefiel schon den antiken Philosophen Platon und Hippokrates. Mit seiner Verbreitung hatten sie die Gewissheit, sich voll und ganz auf ihr eigenes Denken konzentrieren zu können und Frauen sich um Kinder und häusliches Wohl kümmern würden. Und wenn sich einmal ein weibliches Wesen seiner „Bestimmung“ widersetzte, dann galt es schlichtweg als krank oder „hysterisch“.

Den rettenden Samen spendeten die Herren in einer ruhigen Minute bereitwillig, um orientierungslose „Zombies“ im eigenen Haus aber vor allem in der Öffentlichkeit zu verhindern:

„Platon und Hippokrates etwa gingen davon aus, dass eine Gebärmutter bei fehlender regelmäßiger ‚Fütterung mit Samen‘ suchend im ‚Körper umherschweife und sich am Gehirn festbeiße‘, also schwere psychische Schäden verursache.“

Bis ins 20. Jahrhundert hinein empfahlen Ärzte deshalb, Hysterikerinnen zwangsweise zu verheiraten, um sie zu heilen.

Da wundert es niemanden mehr, dass es auch heute noch normal ist, kinderlose Frauen zwischen dreißig und vierzig auf ihre innere, scheinbar tickende Uhr aufmerksam zu machen. Wer diese Uhr nicht ticken hört, zweifelt an seinen Sinnen und gerät in einen Rechtfertigungszwang, der belastend ist.

Die Genderwissenschaftlerin Sarah Diehl hat mit ihrer Streitschrift „Die Uhr, die nicht tickt“ (Arche Verlag 2014)  ein beeindruckend aussagekräftiges Buch geschrieben. Das liegt vor allem daran, dass sie anerkannte Theorien mit Stellungnahmen aus geführten Interviews verknüpft und mutig kommentiert.

Sie setzt dort an, wo meistens aufgehört wird nachzubohren, und erkennt dadurch ein wesentliches, kaum jemals diskutiertes Phänomen. Die Gründe, warum eine Frau keine Kinder bekommt, können unterschiedlich sein. Sie interessiert aber vor allem die Tatsache, dass es Frauen gibt, die den Wunsch nach einem Kind grundsätzlich nicht spüren. Sie sagt dazu, und zitiert einen Satz aus einem FAZ-Artikel von Eva Berendsen:

„Obwohl Frauen (zumindest theoretisch) heute frei zwischen verschiedenen Lebensmodellen wählen können, dominiert noch immer die Vorstellung, dass potentiell alle einen Kinderwunsch hegen. Eigentlich eine zutiefst private Entscheidung, wird Mutterschaft so zum öffentlichen Gut, und ‚der weibliche Lebensentwurf ohne Kinder bedarf auch im 21. Jahrhundert immer wieder einer Legitimierung‘.“

Immer noch wird Frauen dabei wohlwollend der fürsorgliche Part zugesprochen, geistige Arbeit fällt den Männern zu.

Diehl betont weiterführend, dass der Begriff der Fürsorge mit dem der Selbstaufgabe eine Gleichsetzung erfährt, und plädiert für ein Umdenken:

„Fürsorglichkeit ist eine wichtige Eigenschaft, die wir in einer Solidargemeinschaft brauchen. Aber diese Qualität ist geschlechtsunabhängig, wir alle sollten sie uns zu eigen machen. Vor allem sollte sie nicht auf Selbstaufgabe beruhen müssen.“

In Hinblick auf die Berufswahl ist Fürsorglichkeit für Männer eher unpopulär, weil man(n) schnell in schlechtbezahlte Jobs wie den der Altenpflege oder des Erzieherbereichs hineingeraten kann. Dann lieber gleich dem weiblichen Geschlecht immer wieder erzählen, dass sein Wesenskern aus weicher Weiblichkeit besteht und sich somit non chalant aus der Verantwortung stehlen.

„Die Uhr, die nicht tickt“ kämpft einen Kampf gegen essentialistische Stereotype, die so tief im Menschen (!) verankert sind, dass gefragt werden darf, wie Diehl dieses Buch hat schreiben können. Als Individuum in dieser Welt.

Wie kann die Autorin eine Struktur kritisieren, in der sie selbst von kleinauf feststeckt, die prägender Teil der eigenen Sozialisation ist?

Hier helfen ihr die selbstreflexiven Stimmen der interviewten Frauen einer Spur zu folgen, die das tickende Phantom „biologische Uhr“ vertreibt. Ohne zu wissen, wohin die Reise genau führt, lässt sich die Autorin ganz unterschiedliche Beweggründe, keine Kinder zu wollen, erzählen, und kommentiert die Aussagen mithilfe gesellschaftskritischer Studien anerkannter Wissenschaftler/innen von Elisabeth Badinter über Simone de Beauvoir zu Eva Illouz, Michel Foucault und Nina Pauer.

Gesellschaftlich motivierte Argumente spielen dabei immer wieder eine Rolle, wie die viel diskutierte „Doppelbelastung“ der Frau, die zwischen Job und Kinderbetreuung keinen Freiraum mehr für sich findet. Natürlich können gesellschaftliche Gründe Kinderlosigkeit provozieren, auch weil der Partner oft nicht so bei der Kinderaufzucht mitspielt, wie sich Frau das wünschen würde.

Verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ so zitiert Diehl z.B. den renommierten Soziologen Ulrich Beck zum Verhältnis der Männer in Hinblick auf das Thema Emanzipation. „Die meisten würden das Streben ihrer Partnerinnen nach Gleichberechtigung akzeptieren, aber nur bis zu dem Grad, an dem ihr eigener privilegierter Entfaltungsspielraum nicht eingeschränkt ist“.

Für den Mann sind Kinder oft das gesellschaftlich anerkannte Sahnehäubchen zu gut bezahltem Job und Karriere. Fraglos. Aber das männliche Selbstverständnis in Beziehungen ist in dieser „Streitschrift“ weniger Thema. Vielmehr möchte Diehl, wie oben bereits angedeutet, dem Mythos „Mutterinstinkt“ an den schmutzigen Kragen und den Frauen das Selbstvertrauen geben, auf ihre Gefühle als individuelle Empfindungen zu hören.

Auch wenn sie scheinbar gängigen Evolutionstheorien entgegenstehen. Polemisch argumentiert Diehl:

„Wenn man die Evolution unbedingt herbeizitieren möchte und falls sie doch ein denkendes Geisterwesen mit einem Gewissen sein sollte, könnte man ja auch zu folgendem Schluss kommen: dass sie vielleicht erkannt hat, dass Überbevölkerung zur Zerstörung der Welt führen wird und es insofern besser sein könnte, ein paar mehr Frauen einzubauen, die nicht mehr brüten wollen.“

Denn eine Frau ohne Kind kann Kindern – in anderer Qualität –  genauso viel geben, wie eine leibliche Mutter. Auch ohne dass sie ihre eigene, eingebaute „Maschine“ benutzt.

Grundsätzlich geht es dabei um die Frage, wie wir leben möchten. Ob wir der vom Staat propagierten, berechnenden Vater-Mutter-Kind Politik widersprechen und wagen, andere Lebensmodelle auszuprobieren. Diehl hat dazu auch lesbische Frauen mit und ohne Kinderwunsch interviewt, die besonders unter der diskriminierenden Gesetzgebung in der Familienpolitk leiden.

Andere Denkimpulse gibt uns ein Afrikanisches Sprichwort, in dem es heißt:

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen

– eine Einstellung, die nicht zuletzt kooperative, freundschaftliche Brücken zwischen Eltern und Kinderlosen schaffen würde, sondern vor allem den Kindern zugute käme.

Weil Frauen mit der Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, die zufriedeneren Mütter sind.

Oder eben die cooleren Tanten.

Sich selbst Lebewohl sagen. Assia Djebar. Nirgendwo im Haus meines Vaters.

Signatur der Autorin Assia Djebar. Quelle: Wikimedia Commons. Michel-georges-bernard.

Signatur der Autorin Assia Djebar.
Quelle: Wikimedia Commons. Michel-georges-bernard.

Ein Herz und zwei Sprachen, die darin leben. Dem Herzschlag den ganz eigenen Rhythmus vorgeben, wovon die arabische „Muttersprache“ den emotionalen Part übernimmt.

Sie ist nach Aussage der algerisch-französischen Schriftstellerin Assia Djebar diejenige der Liebe, und die französische Sprache diejenige der Schrift. Ihre Texte verfasste die Autorin zeitlebens in der Sprache der „Unterdrücker“, die nötigen Emotionen für ihr Schreiben holte sie sich aus dem Arabischen.

Die Autorin verdeutlicht damit, was es heißt, in einem Land aufzuwachsen, das unter französischer Besatzung steht. Das heranwachsende Subjekt erfährt von Geburt an eine kulturelle Hybridität, die sich auf die eigene Sprache auswirkt. Eine Tatsache, die zu einer permanenten Unzugehörigkeit führen kann und gleichzeitig aber auch eine Chance birgt:

Zweisprachig die künstlich gesetzten Grenzen zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ im eigenen Schreibprozess zu durchbrechen und in der kulturellen Unverortbarkeit sein neues Zuhause zu finden. Überall und nirgends zu sein.

So heißt der Titel des letzten, autobiographischen Textes der großen maghrebinisch-französischen Schriftstellerin Assia Djebar bezeichnenderweise auch „Nirgendwo im Haus meines Vaters„.

Nirgendwo im Haus ihres Vater wächst die kleine Fatima 1936 in der Nähe von Algier auf. Es ist das „Haus ihres Vaters“, nicht etwa das der Mutter, in dem die Tochter von einem strengen Hausherrn und einer modern-europäischen Mutter erzogen wird. Sie liebt ihren Vater, und trotzdem oder gerade aufgrund dieser tiefen Gefühle fressen sich erlebte Kränkungen in der frühen Kindheit in ihre Seele, die sich auf ihre Rolle als heranwachsende Frau in patriarchalen Strukturen bezieht. Mit vier oder fünf Jahren z.B., lernt Fatima im Hinterhof ihres Wohnhauses Fahrradfahren, aber als ihr Vater das sieht, verbietet er es mit folgenden Worten:

„Ich möchte nicht, dass meine Tochter aufs Fahrrad steigt und ihre Beine zeigt!“

Diese Worte richtet er vorwurfsvoll an seine Frau und ignoriert seine kleine, ihn verständnislos anblickende Tochter dabei. Assia Djebar erinnert sich Jahre später an dieses frühe Ereignis in ihrer Kindheit als einen unwirklichen Zustand, der sich mit der Furcht vor der Feindseligkeit paart, die der Vater ihr gegenüber zeigt. Sie kann nicht glauben, dass ihr geliebter Vater plötzlich zu einem Fremden wird:

„In den Augenblicken, die dann folgen, befinde ich mich in einem anhaltenden Nebel, alles scheint so unwirklich. Ich glaube, ich habe mich zum ersten Mal gefragt: ‚Ist mein Vater noch derselbe? Oder ist er plötzlich ein anderer?'“

Zwei Worte bleiben dem kleinen Mädchen in Erinnerung: „Ihre Beine“. Was ist so falsch an ihren Beinen? Diesen wichtigen Bewegungsapparaten?

Schon früh erfährt Fatima, was es bedeutet, als Frau in einem muslimisch geprägten Land geboren zu sein. Das Gefühl von Freiheit, das sie als Heranwachsende spürt, als das metallene Gefährt unter ihrem Gesäß an Geschwindigkeit gewinnt, die Haare wild um den Kopf wehen und der Rock eben die Beine nicht mehr verdeckt – es ist genau das Gefühl, um das die Schriftstellerin Assia Djebar ihr Leben lang schreiben wird. Es in der Sprache der „Unterdrücker“ verteidigt, dem Französischen. Die aufgezwungene Sprache wird für sie paradoxerweise zum Befreiungsinstrument; ausreichend Wut für ihren Kampf schöpft sie wiederum aus dem Arabischen. Es ist ein Anschreiben gegen die Unsichtbarkeit, gegen das Gebot, sich als Frau unter einem langen Schleier verstecken zu müssen und nur in der Schule oder der weiblichen Geborgenheit des Hammam die Hüllen fallen lassen zu dürfen.

Mit fünfzehn Jahren im Internat bemerkt Fatima überhaupt zum ersten Mal bewusst, dass sie sichtbar ist. Es geschieht in dem Moment, in dem sie sich gegen die Verbote ihres Vaters auflehnt und heimlich eine Brieffreundschaft zu einem jungen Mann eingeht:

„Ich war also sichtbar, und ich wunderte mich darüber, denn nachdem ich stets von Frauen umgeben gewesen war, die verschleiert und maskiert waren, die sich unter Wolle, Seide, egal unter welchem Stoff verkrochen, fühlte ich mich in gewisser Weise ebenso un-sichtbar.“

Aber diese Sichtbarkeit schützt sie noch lange nicht davor, von Männern unterdrückt zu werden. In einem weiteren Erzählstrang spürt Djebar ihrer ersten Liebesbeziehung nach. Einer Beziehung, die sie zunächst nur eingeht, um ohne Schleier, weil mit einem „Begleiter“, durch die Straßen Algiers streifen zu können. Die fordernden, körperlichen Annäherungsversuche ihres männlichen Alibis lässt sie als notwendiges Übel über sich ergehen, weil sie die befreienden Spaziergänge zum Überleben braucht.

Wenn sie sich doch einmal alleine aufmacht, maskiert sie sich mit der Sprache der „Unterdrücker“, um von ihren Landsleuten nicht angespuckt zu werden. Denn absurderweise erzeugt die gleiche Muttersprache keine Solidarität unter den Geschlechtern, sondern Hassgefühle:

„Feindselig wären sie einem begegnet, die Angehörigen des eigenen Clans! Auf keinen Fall durfte man in ihrem Beisein den Schleier abnehmen oder seine Identität preisgeben. Doch eigentlich war man ja genau das: unverschleiert! Aber gleichzeitig auch ‚maskiert‘, ja,  die fremde Sprache diente einem als Maske! Wohingegen die Muttersprache einen draußen verraten hätte, sie hätte einen denunziert. Fast hätte man mit dem Finger auf einen gezeigt!“

Das Auflehnen gegen patriarchale Unterdrückung nimmt mit fünfzehn Jahren selbstzerstörerische Züge an. Die Autorin bricht in ihrer autobiographischen Schrift dabei zum ersten Mal ihr Schweigen über diesen frühen Vorfall in der Jugend. Darin spielt ihr „Begleiter“ eine tragende Rolle, weil er versucht, seiner „Verlobten“ einen Befehl zu erteilen, den sie zu befolgen hat. Fatima ist über den Vertrauten enttäuscht und spürt in dieser einschneidenden Szene unmittelbar die Gefahr, die von der Macht des Gegenübers ausgeht. Kopflos flieht sie vor seinen zornigen Worten und hätte fast ihre eigene, andere Stimme, unter den Schienen einer Straßenbahn zum Verstummen gebracht.

Doch zum Glück reagiert der Fahrer geistesgegenwärtig und verhindert damit, dass eine der bedeutendsten weiblichen Stimmen des Maghreb noch bevor sie sich überhaupt entwickeln konnte, verklingt.

Für Djebar bedeutet eine Autobiographie zu schreiben, „sich selbst Lebewohl sagen“. Mit dem Satz wird offensichtlich, wie unentwirrbar semantisch verflochten das Schreiben und das eigene Leben für die Autorin ist. Auch die Autobiographie ist durchdrungen von fiktionalem – und dennoch wird bei dieser Form der Literatur die erzählende Person plötzlich schärfer erfasst. Der Erinnerungsprozess wird ein langer, mutig ausbuchstabierter Abschied von „sich“ und nicht zuletzt von den Lesern, die, alleingelassen inmitten eines begonnenen Freiheitskampfes, mit dem ernüchternden, letzten Satz der Autorin umgehen müssen:

Warum, warum nur haben ich und all die anderen Frauen keinen Platz, ’nirgendwo im Hause meines Vaters‘?“

So ist das Resumé, das Djebar in ihrem Nachwort bezüglich ihres Freiheitskampfes zieht, ein vernichtendes. Was ihr bleibt, ist ein Gefühl der Niederlage, das sie, alleine mit ihren vielen Erinnerungen, einsam zurücklässt:

„Du schaust und zugleich erinnerst du dich, doch du befragst auch, im Inneren deines leeren Herzens, diese riesigen Schatten des Grolls, der aufrechten, hyperbolischen, stürmischen Niederlage. Und endlich bist du stumm! Endlich Stille. Nur du allein und deine offene Erinnerung. Und du reinigst dich mit Worten aus Staub und aus Glut. Dann gehst du, tätowiert, ohne zu wissen, wohin, dem Horizont entgegen, der genau vor dir liegt.“

„Nirgendwo im Haus meines Vaters“ ist Assia Djebars persönlichstes Buch, und nach Beendigung der Lektüre lässt es einen in einer Hoffnungslosigkeit zurück, die mit Blick auf die vielen Kriegsschauplätze der Welt ihre Berechtigung hat. Und dennoch möchte man der Autorin für ihre sonst mutmachende politisch-poetische Literatur gut zusprechen und das Versprechen geben, sich um ihr Erbe zu kümmern.

Denn vielleicht finden sich Freiheitskämpfer/innen, die sich, egal ob auf theoretische oder praktische Weise, Assia Djebars Gedankengut als Grundlage nehmen und darauf aufbauen.

Jetzt, wo sie selbst stumm dem „Horizont entgegen“ geht und sich nicht mehr äußern kann.

Verborgene Möglichkeiten der Verletzbarkeit. Heike Geißler. Saisonarbeit.

Heike Geißler - Saisonarbeit (Cover)

Heike Geißler – Saisonarbeit (Cover)

Wenn verletzbare „Seelchen“ bei Amazon als Saisonarbeiterinnen anheuern, sieht das fast nach einem Selbstmordversuch aus. Aber nur fast. Denn: natürlich sind wir sensibel, doch hier nicht im zerstörerischen Sinne. „Wir“ sind in Heike Geißlers „Saisonarbeit“ (Spector books/Volte#2) die Leser/innen, die mit der Autorin die Erfahrung machen dürfen, bei Amazon in Leipzig Kisten zu packen. „Wir“ sind eine freischaffende Übersetzerin und Autorin, die dringend Geld benötigt, und deswegen ihre, von anderen konstatierte Verletzbarkeit für sich nutzt, weil „in Ihrer Verletzbarkeit etliche Möglichkeiten verborgen“ liegen. Ein gefühlter Mangel entwickelt eine Kraft, die auf besondere Weise den analytisch-emotionalen Blick auf gesellschaftliche Zustände richten kann und Dinge bemerkt und kommentiert, die seelenlose Menschen nicht im Traum entdecken würden. Dazu gehört auch grundsätzlich darüber nachzudenken, „warum es zuweilen wie Versagen wirkt, vom eigentlichen Job nicht leben zu können.“ Der Text gewährt uns Einblicke in einen abgegrenzten Mikrokosmos und verweist dabei gleichzeitig auf allgemeine Phänomene in der Arbeitswelt, die nicht nur uns „Seelchen“ etwas angehen.

Aber wie behält man als Leiharbeiter/in bei Amazon und ähnlichen Arbeitsfabriken seine Seele? Wie kann sich der textintegrierte Leser gegen die permanent anwesende Gefahr, in solchen Strukturen zu verschwinden, auflehnen? Nur durch konsequente Selbstreflexion über die neuen Erfahrungen, nur durch den rettenden Abstand zwischen ihm und der Struktur, die ihn droht zu absorbieren. Dabei spielt das Moment der Nichtzugehörigkeit in der Arbeitsgruppe eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Wunsch nach Zugehörigkeit anthropologisch stark ausgeprägt ist, kann Kritik an bestehenden Verhältnissen nur durch eine Form der entfremdeten Abgrenzung überhaupt erst formuliert werden. Die auktoriale Erzählerin bemerkt an einer Stelle ganz passend, wie schwer es „uns“ fällt, unsere Unzugehörigkeit einfach so zu akzeptieren, weil „hier alle bis ins Mark hinein dazugehören wollen, was hauptsächlich daran liegt, dass niemandem Zeit bleibt, andernorts dazuzugehören“. Die Arbeitsheimat ist hier dann eben zur Not auch Amazon – besser als arbeitslos auf dem Sofa zu vereinsamen.

„Wir“ werden also von nun an von der Ich-Erzählerin in die Fabrikhallen geschickt und erleben unsere neue Arbeit durch ihre psychologische Brille. Sie kommentiert für uns den täglichen Arbeitsablauf, stellt uns Schichtleiter vor, die uns wie ihre Kinder behandeln, oder einen Hubwarenfahrer, in den wir uns kurzzeitig verlieben, damit die Arbeit spannender wird. Wir sind von Anfang an die „Frau Professor“ für die Vorgesetzten, weil wir einen akademischen Abschluss haben und durch unsere berechtigten Einwände, die z.B. Arbeitsabläufe angehen, den von uns verlangten verdinglichten Status immer wieder unterlaufen. Eine Arbeiterin am Fließband hat keine Fragen zu stellen, die das Management betreffen. Und noch weniger hat sie die Berechtigung, sich über strukturelle Ungerechtigkeiten aufzuregen.

Aber „wir“ kennen und schätzen die Autorin Elfriede Jelinek, und nehmen ihre Aussage wörtlich:

„wer lebt, stört“

– und überlegen uns, wie so eine Störung des abgeschlossenen Systems, in das „wir“ hier geraten sind, aussehen könnte. Denn obwohl „wir“ nur eine niedere Packerin sind, verpacken „wir“ immerhin Bestellungen, die unversehrt beim Kunden eintreffen sollten…

Doch wie lange halten „wir“ die Saisonarbeit tatsächlich aus?

So lange bis das Konto gefüllt ist und der Leidensdruck stark genug wird, um uns zum Handeln zu zwingen. Denn auch das ist eine Möglichkeit, die uns „Seelchen“ offen steht. „Wir“ können spüren, wann der Zeitpunkt für unseren Abgang gekommen ist, weil „wir“ Körper und Geist noch wahrnehmen und Warnsignale frühzeitig erkennen. Überhaupt ist  Handlungsbereitschaft eine kompromisslose Bedingung, die die Erzählerin an uns stellt bevor „wir“ die Bühne verlassen:

Wir gehen nicht aus dem Buch, ohne dass Sie gehandelt haben werden.“

Und eine entscheidende Handlung wird bald nötig sein, wenn sich unser Hirn nicht längerfristig anfühlen soll wie ein aufgeweichter Kaugummi. Denn irgendwann kann auch die selbstreflexivste Mitarbeiterin nichts mehr gegen die quälenden Ermüdungserscheinungen tun, die Fließbandarbeiten über kurz oder lang erzeugen, um zu einer tödlichen Subjektauslöschungswaffe zu werden.

Politische Literatur ist in Deutschland selten geworden, da der schwierige Spagat zwischen literarischem Erzählen und politischen Inhalten unpopulär ist und selten gelingt. Entweder werden nette, angenehm lesbare Geschichten erzählt; oder geschwätzige politische Sachbücher publiziert, denen es an philosophischer Tiefe fehlt. Die Autorin Geißler balanciert meisterhaft zwischen den genannten Genres und erschafft durch die Integration des Lesers in den Text ein Gefühl der persönlichen Angesprochenheit, das zugleich irritiert. Durch die besondere, ungewöhnliche Erzählstrategie birgt er einen kollektiven Wiedererkennungswert für jede(n) geschädigte(n) Arbeitnehmer(in) ohne dabei ins Triviale abzurutschen. Vielmehr wird das Bewusstsein für Handlungsoptionen gestärkt, die auch so manchen (mittlerweile) bewegungsunfähigen Malocher doch noch animieren könnte, sich zur Wehr zu setzen…

Empathie versus Testosteron. Karen Duve. Warum die Sache schiefgeht.

Vernebelte Welt. Vernebeltes Deutschland. Eine Sicht auf die Wirklichkeit ist nahezu unmöglich. Nahezu. Denn zum Glück konnte die Autorin Karen Duwe genügend produktive Wut zusammenklauben um eine Lichtschneise durch die trübe Sicht auf die Zustände in der Welt zu schlagen. Sie konnte sich abwenden von der Illusion, dass hier „doch eigentlich gar nichts los“ sei. Eine Illusion, die ihrer These nach durch den komfortablen Lebensstil entsteht, der hierzulande gepflegt wird. Egal, ob gerade irgendwo auf dem Erdball der Lebensraum anderer Menschen unter Wasser steht, allein im Jahr 2013  880 Naturkatastrophen gezählt wurden. Klimaveränderungen gab es schon immer, also keine Panik. Uns trifft es ja sowieso nicht. Oder doch?

„Wenn wir tatsächlich zu arglos sind, um uns das kommende Szenario auszumalen, warum werden dann inzwischen Reissorten entwickelt, die mehrere Überschwemmungen überstehen und es länger als zwei Wochen unter Wasser aushalten können?“

Steuern wir demnach sehenden Auges unserem eigenen Untergang entgegen? Das Problem besteht nach Meinung der Autorin darin, dass es die jetzige entscheidungsverantwortliche Generation (Jahrgang 50) und deren Kinder noch nicht so dramatisch erwischen wird, wie deren Enkel. Also warum jetzt bereits den eigenen Konsum einschränken, wenn so schön bequeme große Autos wie noch nie produziert werden, in die wir unsere Hintern unglaublich gerne betten möchten. Außerdem müssen wir alle doch durch unsere Kaufkraft zum Wirtschaftswachstum beitragen! Duwe nennt dieses rücksichtslose Verhalten „Generationenimperialismus„, und er wird vor allem von denen betrieben, die an den längeren Hebeln sitzen:

“ Bei Licht betrachtet, sind wir noch immer die alten Affen und unsere moderne Industriegesellschaft ist noch immer eine hierarchisch organisierte Primatengesellschaft, die sich an den jahrtausendealten Schimpansenregeln der Herrschaft und Unterdrückung orientiert.“

Die Autorin nimmt anhand dieser Erkenntnis eine genauere Typisierung des heutigen Machtmenschen vor. Sie formuliert eine einleuchtende Gleichung:

Rücksichtslosigkeit steht gleichbedeutend für Führungsstärke.

Bis heute sind es vor allem männliche Subjekte, die eine Führungsposition innehaben und es folgt logischerweise aus der Gleichung die eine Konklusion:

wenn rücksichtsloses Verhalten semantisch gleichzusetzen ist mit Führungsstärke, und nur Männer wichtige Positionen z.B.  in der Finanzwelt innehaben, heißt das, dass Männer rücksichtsloser sind als Frauen.

Uiuiui! Kein Wunder, dass diese Aussage die Rezensent/innen auf die Palme gebracht hat. Aber Fakt ist nun einmal, dass „da oben“ keine Frauen sitzen, und wir können uns doch die Frage stellen, warum das so ist? Warum setzt sich das weibliche Geschlecht nicht soweit durch, dass es in der oberen Liga mitmischen kann? Duwe rudert mit ihrer männerkritischen These immer wieder zurück, indem sie betont, dass es auch ein Problem der stillen und schüchternen Frauen sei, sich zurückzuziehen und durch ihre Passivität eine Mitschuld am Zustand der Welt zu tragen. Ohne Mitläuferinnen wäre der dickste Primat entmachtet. Aber Duwe bleibt nicht im Halbgaren und provoziert unsere Tiefschlafgesellschaft weiter mit Sätzen wie:

Männlichkeit ist eine minder schwere Form von Autismus„.

Das psychologische Profil eines autistischen Menschen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er die Belange seiner Mitmenschen emotional gar nicht wahrnimmt. Folglich empfindet er auch keine Reue oder Scham bei einem Fehlverhalten seinerseits. Eine gute Voraussetzung um es bis an die Spitze zu schaffen. Mittlerweile sind nicht nur Geisteswissenschaftler/innen sondern auch Hirnforscher/innen auf dieses Problem aufmerksam geworden und kommen zu einem physiologischen Erkenntnisansatz:

„Die Ursache liegt in ihrem Gehirn. Es handelt sich um einen Defekt im paralymbischen System, das für Impulskontrolle sorgt und moralische Entscheidungen trifft. Dort werden unsere Erfahrungen an Gefühle gekoppelt. Bei Psychopathen ist dieser Hirnbereich weniger aktiv und strukturell schwächer. Sie sind gar nicht in der Lage, Reue, Scham oder Mitgefühl zu empfinden.“

Wenn psychopathische Verhaltensweisen nun als Führungsqualitäten angesehen werden, besteht die Gefahr, dass die Angestellten im Unternehmen das Verhalten des Chefs als Norm begreifen und unhinterfragt übernehmen („groupthink„-Phänomen). Tendenziell empathische Individuen drängen dabei ihr im sozialen Gefüge erworbenes ethisches Verhalten in den Hintergrund, weil sie es als lästig und wenig karrierefördernd begreifen.

Interessanterweise echauffieren sich besonders die weiblichen Rezensenten über den oben zitierten Satz (Frankfurter Allgemeine vom 10.11.2014: Ursula Scheer. Weg mit den irren Alphamännchen!). Als bräuchten sie den Glauben an die Kraft der Alphatiere, weil sie ohne sie ja doch nicht überleben können. Dabei ist es gerade andersherum: Männer wären ohne eine treue, aufopferungsbereite, ehrenamtliche Unterstützerinnengemeinde niemals auf die Chefsessel gekommen.

Aber Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Ich denke, wir müssen anders an „die Sache“ rangehen und uns grundsätzlich fragen:

Wer hätte überhaupt die Kraft, den richtigen Impuls dazu, die Erde vor dem Kollaps zu bewahren?

Männer hatten über Jahrhunderte die alleinige Regierungsmacht. Und somit auch die Definitionsmacht darüber, wer nun eigentlich das fähigere Geschlecht ist. Duwe bemerkt dazu:

„Über Jahrhunderte den Frauen den Zugang zu Universitäten zu verweigern, und sich dann hinzustellen und die Überlegenheit des eigenen Geschlechts als ewige kosmische Wahrheit darzustellen, die sich schon allein daran ablesen lässt, dass alle wichtigen Erfindungen und großen Konstruktionen stets von Männern gemacht worden sind, dazu gehört schon eine ordentliche Portion Selbstgefälligkeit.“

Wenn das weibliche Geschlecht nun nach Duwe und einigen Wissenschaftlern empathiefähiger ist, dann geben wir der Herrschaft der Emotionen doch eine Chance. Fördern wir einen emotionaleren Zugang zur Welt, einen Wandel vom testosterongeleiteten Handeln der Alphatiere hin zur Herrschaft einer emotionalen Rationalität (z.B. durch die Frauenquote). Die Möglichkeit, dass Frauen für einige Posten qualifizierter wären, besteht – aber auch Männer nach dem Vorbildtypus „dm-Chef“ hätten endlich eine Chance.

Nebenbei bemerkt: Zuviel Testosteron tut niemandem gut. Auch nicht den Frauen. Man(n) wird aggressiv und die von Johann Gottfried Herder anthropologische (emotionale!) Tugend der Besonnenheit verliert ihren Einfluss.

Duwe schlägt ohne Zweifel mit ihrer teilweise spekulativen Argumentation über die Stränge, weil sie sämtliche große politische Themen auf knapp 180 Seiten abhandelt, ihre intutive Meinung mit der Lektüreerkenntnis einschlägiger wissenschaftlicher Abhandlungen vermengt und so eine radikale, argumentativ durchaus anfechtbare Mischung entsteht. Aber gerade deswegen ist dieser Text so unglaublich wohltuend. Weil es dieses kompromisslose Pamphlet auf seine aufweckende Art schafft, eine Diskussion über den Zustand der Welt anzustoßen und dabei unserer Weichspülergesellschaft eine Tatsache verdeutlicht:

Dass der Planet Erde seinem Untergang entgegen schlittert, wenn wir nicht jetzt sofort etwas dagegen unternehmen.

Duwe bietet uns keine rettende „Lösung“ gegen den Kollaps.

Deswegen soll uns der leider früh verstorbene Satiriker der Neuen Frankfurter Schule, Robert Gernhardt, in seinem „Sinngedicht“ einen Ansatz anbieten:

Sinngedicht:

Sei gut zu dir.

Die Welt ist schlecht.

Das Unrecht blüht,

nimm Dir das Recht

und tu den Schritt

zum Ich vom Wir:

Die Welt ist schlecht.

Sei gut zu dir.

 

Über den eigenen Sinn im Leben kann ich nur nachdenken, indem ich den Schritt aus der Gruppe (Wir) zu mir (Ich) mache. Um ein Gespräch mit Sich führen zu können; einen kurzzeitigen Trennungsstrich zwischen mir und den Anderen zu ziehen. Damit ich begreife, woraus der eigene beglückende „Sinn“ besteht.

Vielleicht merkst du in deiner Vereinzelung schließlich, dass du nicht wie alle um dich herum dieselbe schwarze, große Hippsterbrille auf der Nase tragen musst, nur um ein Gefühl der künstlichen Zugehörigkeit zu erzeugen. Möglicherweise erhälst du ein viel länger anhaltendes Gefühl der Zufriedenheit, indem du zum Beispiel durch die Restbestände eines Waldes streifst und seine unverstellte Natürlichkeit genießt. Um dann zu begreifen, worum es eigentlich geht:

individuell im Kollektiv zu denken, nach Duwe „groupthink“ – Phänomenen entgegenzuwirken und die richtigen Entscheidungen mithilfe deiner eigenen Meinung in einer pluralistischen Gesellschaft zu fällen und sie damit positiv zu verändern.

 

Auf Youtube gegen die Macht der Verdrängung. Vanessa F. Fogel. Hertzmann’s Coffee.

Nur wer über sich und seine Zeit schreibt, schreibt über alle Menschen und alle Zeiten

Fogel. Hertzmann's Coffee. Quelle: Verlag weissbooks.w

Vanessa F. Fogel. Hertzmann’s Coffee
Quelle: Verlag Weissbooks.w

Das Zitat von George Bernard Shaw taucht im Roman Hertzmann’s Coffee von Vanessa F. Fogel, erschienen 2014 im Frankfurter Weissbooks Verlag, nicht ohne Grund gleich zweimal auf. Es stellt einen direkten Bezug zwischen der individuellen Erfahrung eines Menschen und dem kollektiven Gedächtnis der Menschheitsgeschichte her und weist mitten ins Herz der Story.

Der sympathische Protagonist Yankele Hertzmann muss diesen Zusammenhang erst noch schmerzhaft begreifen. Meinte er doch tatsächlich bis vor kurzem, als glücklicher Mann sterben zu dürfen, ohne sich vorher intensiv mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben:

„Bis vor ein paar Wochen glaubte ich, ich würde als glücklicher Mann sterben. Ich bin bei ausgezeichneter Gesundheit, abgesehen von meinen Zähnen und meiner zuweilen eingeschränkten Sicht. Aber das kommt auf alle alten Menschen zu.“

Seine hervorragende körperliche Verfassung schreibt er dem Kaffee zu, dem er als Begründer einer großen Kaffeefirma sein Leben gewidmet hat. Er ist in Form:

„Weil ich mindestens acht Tassen Kaffee am Tag trinke. Und jeder weiß, dass Kaffeetrinker gute Chancen haben, jene zu überleben, die keinen Kaffee trinken.“

Vielleicht liegt es aber auch ganz einfach am Glauben an sein großes Lebenswerk, dass sich Yankele mit 85 Jahren noch so rüstig fühlt. Denn es ist nicht der Kaffee, der ihm nach dem großen Familienstreit auf der Geburtstagsfeier von sich und seiner Frau Dora den Lebensmut zurückgibt. Enttäuscht kann er nicht begreifen, warum sich seine innig geliebte Familie, seine vier umhegten und vielleicht etwas zu sehr verwöhnten Kinder, um das Firmenerbe streiten.

Die Liebe zwischen den Eheleuten wird dabei eindrücklich von der Autorin als ein genauso absolutes Gefühl beschrieben, wie der Hass unter den Geschwistern. Eine lebenspendende Emotion wird einem Gefühl mit Vernichtungsintention entgegensetzt und wirft die Frage auf, wie es dazu kommen kann, dass aus den Körpern zweier sich liebender Menschen eine hasserfüllte zweite Generation entstehen kann.

Nach der mißglückten Geburtstagsfeier plagen das Familienoberhaupt Alpträume, in denen sich verdrängte Erinnerungen unaufhaltsam ihre Existenzberechtigung zurückerobern. Die Angst vor dem Tod, der durch die Metapher der falschen Zähne immer wieder angedeutet wird, ergreift Besitz von seinem Bewusstsein. Er spürt intuitiv (er ist im Gegensatz zu seiner rational handelnden Frau der intuitive Entscheider!), dass ihn nur die eigene Konfrontation mit der Vergangenheit vor dem baldigen Ableben bewahren wird. Er muss seinen Kindern erklären, warum (Geschwister)liebe gerade in der heutigen Zeit von Bedeutung ist. In einer Zeit, in der die Gräuel des Holocausts unter einer dicken Geldschicht des Vergessens begraben liegen. Jeder wieder nur noch an sein eigenes Fortkommen denkt, Egoismus das Ideal Mitmenschlichkeit ersetzt. Und seine Zöglinge reihen sich leider mit ein, da auch sie Kinder ihrer Zeit sind.

Nur in der dritten Generation gibt es einen, der ihm charakterlich ähnlich ist:

sein nerdiger Enkel Marc aus Berlin. Der Außenseiter ist ein hoffnungsloser Nostalgiker, weil er als leidenschaftlicher Puzzler nicht den ganzen Tag wie alle anderen Gleichaltrigen vor der Spielkonsole hängt. Stück für Stück setzt er  stattdessen individuell zugeschnittene Pappeteilchen mit viel Geduld zusammen.

Bis zuletzt ein einziges, großes Bild entsteht.

Aber Puzzlebilder müssen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Wo nicht rechtzeitig geflickt wird, entstehen Lücken im Beziehungsgewebe, die niemals wieder gestopft werden können. Denn:

„Das Leben ist nicht wie ein Puzzle. Man kann die Teile nicht einfach wieder zusammen setzen, wenn man sie auseinander gerissen hat. So wie verdorbene Kaffeebohnen, die in der Hitze und im Licht gelegen haben, niemals mehr gute Bohnen werden.“

Doch wie sollen die Kinder überhaupt begreifen, warum für den alten Vater die Kaffeefirma auch einen ideellen Wert hat und ein Verkauf keine Option ist. Ihr Fortleben in der nächsten Generation etwas viel Tieferes symbolisiert als reine Geschäftigkeit:

Sie ist (s)ein Zeichen für das eigene Überleben nach dem Massenmord an den Juden.

Sicher ist: ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit wird die Gegenwart zur Hölle.

So überwindet sich der Ich-Erzähler und entschließt sich über sein Leben vor laufender Kamera zu berichten, um seine Erzählungen den eigenen Kindern und der Öffentlichkeit preis zu geben:

„Die Vergangenheit schmeckte wie der allererste Schluck Kaffee. Nicht gut. Und doch, man kann nicht anders und will mehr davon.“

Der Kaffeejunkee wird zum Erzählsüchtigen, spielt mit den Blicken der Kamera, denen er sich Nacht für Nacht aussetzt. Er ist jetzt unverhülltes Subjekt, das sich nicht mehr hinter einer Wand der Verdrängung versteckt, sondern auf die Bühne der modernen Medienwelt tritt und sie im positiven Sinne für sich nutzt.

Den Schwur, den er sich vor vielen Jahren zusammen mit seiner Frau Dora geleistet hat, niemals über das Erfahrene zu berichten, weil sie keine Opfer mehr sein wollten, verliert seine Bedeutung. Weil Yankele plötzlich merkt, dass ihn gerade das Erzählen aus dem Opferstatus befreit.

Die Philosophin Carolin Emcke hat sich in dem von mir bereits besprochenen Essay „Weil es sagbar ist“ für die mögliche Sagbarkeit des eigentlich Unsagbaren eingesetzt. Mit „Hertzmann’s Coffee“ liegt uns nun eine Geschichte vor, in der insbesondere die zwischenmenschlichen Verwüstungen sichtbar werden, die traumatisierende Ereignisse unter den Überlebenden anrichten können. Wenn sie denn totgeschwiegen werden.

Vanessa F. Fogels spannend komponierter Roman ist nur in Teilen eine Geschichte über den Holocaust. Er ist im tieferen Sinne ein Plädoyer für die Notwendigkeit des Erzählens. Der individuelle Redebeitrag ihres Protagonisten ist dabei eines der vielen Puzzlestücke, die nachfolgenden Generationen die Gegenwart durch die Vergangenheit begreifbar machen könnte, wenn sie sich auf die Erzählung einließen.

Damit sich Fehler in der Zukunft nicht wiederholen und das eigene Leben am Ende aussieht wie eine Ruine, durch die der Wind pfeift.

Durchatmen! Und dann: springen. Elfriede Jelinek. rein Gold.

Brünnhild:

rein Gold. Elfriede Jelinek. Quelle: Rowohlt Verlag

rein Gold. Elfriede Jelinek.
Quelle: Rowohlt Verlag

„Ich versuche also zu präzisieren, das ist ein sehr delikates Gebiet, es fällt mir schwer. Also. Papa hat sich diese Burg bauen lassen, und jetzt kann er den Kredit nicht zurückzahlen. Eine Situation wie in jeder zweiten Familie. Die Leichen von Werkzeugen und Maschinen sind weggeräumt, die Riesen haben die Schaufelbagger ihrer Hände eingesetzt, was ihren ursprünglichen Träumereien sicher nicht entsprochen hat. Und was haben sie dafür gekriegt? Was war ihre Leistung? Was ihre Bezahlung?“

Beim Lesen von rein Gold (Rowohlt Verlag, 2013) habe ich mich immer wieder zwischendurch gefragt: warum bespreche ich ausgerechnet einen Text von Elfriede Jelinek? Warum tue ich mir diese Zumutung an?

Vielleicht, weil gute Literatur manchmal ein schmerzhaftes Kribbeln erzeugen muss, und man dieses nervtötende Gefühl dann eben einfach zu ertragen hat. Wenn man denn auf lange Sicht gesehen einen Mehrwert aus der Lektüre ziehen möchte. Wenn überhaupt etwas bleiben soll. Jetzt ist bereits ein Begriff gefallen, der uns direkt hinein führt in die Jelineksche Sprachkakophonie, in einen ununterbrochenen, nasskalt-anklagenden Satzfluss zwischen Vater Wotan und Tochter Brünnhilde.

Karl Marx‘ Mehrwerttheorie aus dem Kapitalund WagnersRing des Nibelungen sind nur zwei der vielen Intertexte, die diesen monologischen Dialog zu einem eigentlich undurchdringbaren Bedeutungsteppich machen. Was das Gewebe zusätzlich semantisch aufwertet, sind die politischen Bezüge auf die Gegenwart.

Aber jetzt von vorne. Handlungsgerüst ist, wie im Anfangszitat zu erkennen, ein Gespräch zwischen Tochter und Vater. Brünnhild klagt ihren Erzeuger an, unverantwortlich ein Haus erbaut zu haben, ohne den Kredit jemals tilgen zu können. Von nun an ist er den Mechanismen des freien Marktes, der Diktatur des Geldes hilflos ausgeliefert und Täter und Opfer zugleich. Er ist einerseits der Willkür der Banken ausgesetzt und andererseits schuld daran, dass die engagierten Leiharbeiter nur einen Hungerlohn für die geleistete Arbeit bekommen. Vater Wotan hat sich nach Meinung der Tochter um keine Verträge gekümmert; als notorischer Fremdgänger nicht einmal um den Ehevertrag:

(…)“obwohl du es eigens aufgeschrieben hast, wolltest du nichts davon halten, keine Verträge, keine Lohnabsprachen, keine Leihverträge, keinen Leasingvertrag, keinen Ehevertrag, da fängts schon mal an, nebenbei bemerkt!“

Die Untreue, die Brünnhilde ihrem Vater vorwirft, ist eine universelle. So wie er sich schwächlich vom kapitalistischen System hat verführen lassen und jetzt bis zum Hals in Schulden steckt, vögelt er wahllos Frauen, betrügt seine Ehefrau und nicht zuletzt auch seine Tochter.

Dabei hat er das Haus doch nur für seine Frauen gekauft, weil die das so wollten!

Kategorien wie „Geld“ und „Frau“ gehen bereits auf den ersten Seiten von rein Gold eine Symbiose ein. Das klassische weibliche Motiv der Verführung aus dem Alten Testament, die böse Eva mit dem Apfel ist es einmal wieder, die den Mann zu verhängnisvollen Taten antreibt. Weil er ein echter Held sein möchte. Dabei muss ihm doch klar sein, dass „die Frau die Verderbteste und das Verderblichste“ zugleich ist:

„Als wäre eine Frau Geld wert, als wäre jemals eine Frau ihr Geld wert gewesen, nein, fremdes Geld natürlich, nicht ihr eigenes, nur selten ihres, die Frau ist immer Fremdwährung wert, dafür währt sie nicht lang, ihre Jugend, in der die Frau noch was wert ist.“

Der auf seine Körperlichkeit reduzierte Wert einer Frau ist vergänglich, weswegen sich die Helden in der heutigen Zeit auch nicht mehr allein auf die Eroberung von Frauen mit Haltbarkeitsdatum konzentrieren. Es sind diejenigen, die eine Leistung vollbringen, die außerhalb der Wirkkraft des Geldes steht. Gemeint sind die „Helden“ des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU):

„Feinde des deutschen Volkes! Sieg! Nicht ihr seid gemeint. Nehmt euch das Leben! Nehmt andren das Leben! Es steht euch zu! Nehmt es euch! Nehmt euch diese Leben jetzt! Fahrt mit euren wendigen, windigen Fahrrädern dorthin, wo ihr anderen und danach euch das Leben nehmen könnt! Now! Es ist euch gelungen, was noch nie gelungen ist, mehr als zehn Jahre zu morden, das ist eine Leistung in einer Zeit, in der Leistung normalerweise nichts mehr zählt, sondern nur noch das Geld.“

Und die Heldenmädchen sind diejenigen, die übrig bleiben und sagen: „Ich bin die, die ihr sucht“. Die überlebenden Schuldigen, die ihre im Kampf gestorbenen Helden beweinen. Wotan wirft seiner Tochter vor, dass es die Frauen sind, die aus ihrem Schlafzustand erwachen müssen, es unterlassen sollten, sich in Helden zu verbeißen:

„Deutschland erwache! Wieso erwachst du nicht? Weil auch die Götter schlafen? Weil der Lieblingsstar krank geworden ist? Weil eine riesige Sendung, die heller leuchtet als mein Auge am Himmel, heute ohne ihn auskommen muss?“

Heldentum als ein durch und durch negativer Begriff. Hier wird er bis zum Letzten durchexerziert. Helden als Kriegstreiber und die Frau als Beute; aber auch eine, die sich zur Beute machen lässt. Weil sie bis zuletzt hofft, wie Brünnhild betont, einen Freier zu finden, „der mich nicht freit, sondern frei macht.“ Die Liebe als Utopie von der es wie das Kapital zuviel gibt, aber die trotzdem keiner hat.

Übrig im Kapitalismus bleibt am Ende nur das Geld, das sich von seinem treuen „Steigbügelhalter“ Ware trennt. Es vergisst, dass es ohne die Ware niemals erschaffen worden wäre:

„(…) so werden die Warenverhältnisse verschwinden, und die wahren Verhältnisse treten aus dem Schatten, Geld bitte übernehmen Sie, ja, gern, ich übernehme, ich bin die einzige sich selbständig bewegende Substanz (…)“

Selbstständig bewegend und sich verselbstständigend; bis niemand mehr weiß, was da gerade passiert mit dem eigenen Kapital auf der Bank. Es stimmt nachdenklich, wenn Epen aus dem Mittelalter, wie z. B. das Nibelungenlied, mühelos dazu benutzt werden können um die aktuelle Bankenkrise zu veranschaulichen. Die Menschheitsgeschichte kann selbst für überzeugte Optimisten nicht mehr als Fortschrittsgeschichte beschrieben werden. Für Göttervater Wotan besteht unsere Gesellschaft wie immer schon aus Schlafwandlern und fremdgesteuerten Blindschleichen:

„Sie sind ja noch blinder als ich. Ich habe wenigstens noch ein Auge. Die haben gar keins mehr, das nicht an einen Bildschirm, erhältlich in den verschiedensten Größen, von ganz klein bis ganz groß, geheftet, genagelt oder unter Turnschuhen zertreten worden wäre. Selber im Gedränge ihre Turnschuhe verlieren. Die haben kein Auge mehr übrig, für nichts.“

Angekommen in der Gegenwart verabschiedet sich Wotan mit diesen Worten von seiner Tochter Brünnhild, die unerschütterlich an die Liebe zu ihrem Helden glaubt und auf ihn als Erlöser hofft. Solange sie in der Warteschlange weiterhin so grandiose Texte spricht, sollten wir sie nicht daran hindern, sondern einfach stehen bleiben und lauschen denn:

Bei rein Gold von Elfriede Jelinek ist es wie mit dem Vertrauen auf die wahre Liebe. Der Sprung in den Textfluss hinein erzeugt einen seltenen aber beunruhigenden Erkenntnisgewinn. Ohne dass man letztlich weiß, wohin er einen treiben wird.

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Mit wütender Kleinmädchenscham gegen die Regeln im Schlachthaus von Herren Umlauf und Co.

In welchem Alter realisiert ein Mensch, dass das Leben eine andauernde Prüfung darstellt?

Marlene Streeruwitz. Nachkommen. Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

Marlene Streeruwitz. Nachkommen.
Quelle: Fischer Verlag, Frankfurt

In Marlene Streeruwitz neuem Roman Nachkommen läutet diese Erkenntnis den Übergang zum Erwachsensein ein, in dem keine Mutter der Welt die Protagonistin noch vor der grausamen Realität beschützen kann.

„Nachkommen“  thematisiert den Verfall der Literatur im Kapitalismus, einer „Gesellschaft des Spektakels“. Aber es geht noch um viel mehr. Der Text kreist um die alten, ewig bestätigten Macht(ungleich)verhältnisse nicht nur zwischen den Menschen im Allgemeinen, sondern zwischen Mann und Frau.

Protagonistin ist eine 20-jährige Autorin, die es mit ihrem Romandebüt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Eine lebenskluge Person, die auf die oft gestellte Frage, warum sie denn Literatur mache, dem überforderten Reporter antwortet: „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es eine Suche nach dem Lebendigen. Literatur.“

Auf dieser bitter notwendigen Suche erfährt sich die Protagonistin selber immer mehr als jederzeit auslöschbares Subjekt, und der verfasste Roman entpuppt sich nicht als der erhoffte Halt in der grotesken Wirklichkeit der Bücherwelt. Denn hier wird über Bücher verhandelt, nicht über Romane. Fiktionale, politisch motivierte Geschichten interessieren nicht, interessant ist die Person, die die „kleine Odyssee“ verfasst hat, und darüber hinaus eine junge, schöne Frau ist.

Beklemmend wirkt es, wenn ein anerkannter Verleger betrunken an den Messestand der Autorin wankt und ihr all seinen persönlichen Lebensfrust mit den Worten entgegenschleudert:

„Ich mag euch junge Frauen nicht. Ihr glaubt wirklich, für euch gilt gar nichts. Keine Regeln. Nichts. Ihr glaubt wirklich, ihr könnt mit der Welt machen, was ihr wollt. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könnt mit eurem Geschreibsel einen Eindruck machen.“

Wie kann sie es wagen, sie, Nelia Fehn, die Tochter einer früh verstorbenen feministischen Autorin, mit ihrem Geschreibsel „alles zu ruinieren“? Was genau der Verleger namens Umlauf mit dieser Anschuldigung meint, bleibt mehrdeutig. Besteht der Fauxpas darin, dass sich die Autorin einen anderen Verleger für ihren Erstling ausgesucht hat? Eine andere Vaterfigur, die keine ist aber gerne eine wäre und die selbstständige Autorin durch sein Verhalten nur zu einem unmündigen Kind degradiert? Oder betrifft die Anschuldigung sie direkt, als schreibende Frau? Eine Frau, die ihre Stimme erhebt, und in ihrer eigenen, nicht männlich dominierten Sprache versucht, die Wirklichkeit zu beschreiben. Ein Ausbruch aus den allgemein anerkannten „Regeln“ des Patriarchats.

Beunruhigend ist es für die alteingesessenen Herren Verleger, wenn sich eine junge, talentierte Frau zu Wort meldet, die gar keine Gedanken daran verschwendet, mit einem von ihnen ins Bett zu gehen. Stattdessen trinkt Nelia Fehn nicht einmal Alkohol, ist Vegetarierin und hält beim Fototermin auf der Messe ein wenig freundlich blickendes Gesicht in die Kamera, weil sie nicht „eines dieser Tausenden grinsenden Frauengesichter“ sein möchte, „die im Bilderdienst des Kapitalismus begraben“ werden. In den Augen der Männer ist sie zickig, nicht domestizierbar, weil sie ihren eigenen Kopf hat. Die viel gefürchtete Wut der Mutter in sich trägt, die sie zwar einsam, aber auch kreativ macht. Eine so ganz unweibliche Emotion und der Grund, warum Nelia ohne leiblichen Vater aufwächst. Brutaler noch: wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen, wäre sie niemals geboren worden. Mit wütenden Frauen ist nicht gut Kirschen essen. Dann lieber eine vierzig Jahre jüngere Geliebte, die mit blondierter Haarverlängerung zum Herrn Professor aufblickt und das Bild der unkomplizierten, sanftmütigen Frau verkörpert.

Mit diesem Vater möchte die Autorin eigentlich nichts zu tun haben. Auf der Buchmesse in Frankfurt taucht er jedoch plötzlich auf, ein Totgeglaubter, der ihr gegenüber seine Besitzansprüche äußert. Weil er doch auf seine Tochter stolz ist. Einen Menschen, den er niemals kennen lernen wollte.

Wiederum ist es die Wut, die Nelia widerständig macht und trotzdem nicht verhindert, dass sich beim Fernsehinterview die verinnerlichte, leidige „Kleinmädchenscham“ in ihr ausbreitet. Nur weil sie es gewagt hatte, vor der Kamera eine authentische, also ungewöhnliche Aussage zu machen. Eine Aussage, auf die sie stolz hätte sein können, wenn sie sich nicht gleichzeitig sicher gewesen wäre, dass das kleine, unerfahrene Mädchen gegen die Regeln des „Schlachthauses“ verstoßen hatte:

„Da müssen die durch, wurde da gesagt. Wenn sie (Mädchen) mitmachen wollen, dann müssen sie das aushalten, wurde da gedacht. Die müssen das auch lernen. Einführungen in die Regeln des Schlachthauses wurden da abgehalten. Seminare der Selbsterniedrigung waren das und durchaus für alle.“

Wer gegen die Regeln à la Umlauf und co. verstößt, wird schneller als Frau denkt, zum Verschwinden gebracht. Vegetarierinnen sind da besonders gefährdet. Kein Schlaraffenland für diejenigen, die aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten und dann nicht einmal wenigstens ihr eigenes junges Fleisch den Schlächtern zum sexuellen Genuss anbieten.

Wer diese Romanbesprechung liest mag denken, Marlene Streeruwitz sei eine Männerhasserin. Das ist sie nicht. Denn die meisten Frauen kommen auch nicht wirklich gut weg. Sympathisch sind nur diejenigen, die sich mit der Autorin auf irgendeine Weise verbünden und ihr ihre Solidarität bekunden. Wenn der Feminismus nach diesem grandiosen Text auch in einer aussichtslosen Sackgasse angekommen zu sein scheint, wird doch eine Möglichkeit sichtbar, wie sich die schreibenden Stimmen der Frauen gegen den Schlachthauswahn behaupten könnten, um mehr als bloß darin zu existieren:

Durch eine aufkeimende Solidarität untereinander, die den allgemeinen Konkurrenzgedanken ausschaltet und alteingesessene Männerklüngeleien aufmischt.

Die Protagonistin ergreift zunächst die Flucht vor dem „Schlachthaus“. Doch wir können uns sicher sein, dass die Wut ihrer toten Mutter in ihr weiterlebt und sie dazu antreiben wird, einen weiteren Roman zu schreiben.

Weil sie gar nicht anders kann, wenn sie denn am Leben bleiben möchte. Ein Zombiedasein wie das ihres Vaters wird sie niemals führen, da sie sich im Gegensatz zu ihm nicht im Unbewussten verliert, sondern sich den tagtäglichen Lebensprüfungen wie eine Erwachsene stellt. Weil sie zum Lebendigsein dazugehören:

„Es ging am Ende darum, wer im Leben am Leben bleiben hatte können und wer da schon tot gewesen war. Dieser Mann war einer von diesen unbewussten Zombies. Dieser Mann war ein Vampir und brauchte das Blut junger Frauen. Die Mami hatte ganz einfach recht gehabt.“

Marlene Streeruwitz hat es mit ihrem Roman leider nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft. Es ist selbsterklärend, warum nicht.

Carolin Emcke. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben. Brüchige (Un-) Sagbarkeiten heute.

Unsagbarkeit.

Große Geister wie Hugo von Hofmannsthal, Musil, Nietzsche oder Bachmann haben mit diesem Phänomen gespielt. Und ihrer Sprachskepsis als Dichter und Denker dabei zugleich mit den farbigsten Worten Ausdruck verliehen. Sich performativ durch ihr eigenes Handeln selbst widersprochen. Die richtigen Worte finden, um die schrecklichen und schönen Dinge in der Welt wahrhaftig zu beschreiben – wer könnte es besser als die Poetin, der Poet unter uns? Jemand, der gar nicht anders kann, als gegen die Grenzen der Sprache anzuschreiben, neue Metaphern zu erfinden um die untaugliche Alltagssprache auszutricksen?

Carolin Emcke. Weil es sagbar ist. Quelle: Fischer Verlag Frankfurt

Carolin Emcke. Weil es sagbar ist.
Quelle: Fischer Verlag Frankfurt

Nicht ohne Grund hat sich die promovierte Essayistin und Journalistin Carolin Emcke für ihren gleichnamigen Beitrag im Essayband „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ (Fischer Verlag 2013), einen Bericht der russischen Dichterin Anna Achmatowa an den Anfang gestellt:

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ‚erkannte‘ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):

‚Und Sie können dies beschreiben?‘

Und ich sagte:

‚Ja.‘

Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“

 

Anna Achmatowa verspricht hier einer vom Terror unter Stalin zutiefst traumatisierten Frau, Worte zu finden für das Erlebte, um anderen gegenüber Zeugnis ablegen zu können. Auch sie ist Opfer, wartet vor den Gefängnistoren auf die Entlassung ihres inhaftierten Sohnes. Aber gleichzeitig ist sie mehr als das. Der allgemeinen Sprachlosigkeit der verdinglichten Frau mit den „blauen Lippen“ setzt sie die Möglichkeit einer Re-Humanisierung der Traumatisierten durch die eigene Zeugenschaft entgegen. Ein starkes Plädoyer für die Benennbarkeit eigentlich unvorstellbarer Ereignisse, hinter das Emcke einen wichtigen Zusatz anbringt. Eine Art Bedingung, ohne die es der Autorin schwer fällt, Achmatowas Vertrauen in die Macht der Sprache, die Möglichkeit der Sagbarkeit, anzuschließen.

Zentral ist hierbei das „Wie“ der Erzählung. Erfahrene Gewalt kann ihrer Meinung nach erzählt werden, muss erzählt werden. Denn: „Wenn Erfahrungen unbeschreiblich sind, bleiben sie auch undurchdringlich“ (Emcke S. 21) und die Opfer verharren mit ihnen für immer alleine. Wichtig ist aber nach Emcke die gewählte sprachliche Form. So betont sie:

„Das Erzählen trotz allem kann gelingen, wenn es mit keinem naiven Anspruch auf Vollständigkeit oder Einstimmigkeit einhergeht. Diese Erzählungen werden Irrtümer enthalten, auch Rätsel. Erzählte Erfahrung, individuell oder kollektiv, wird sich verdichten und womöglich stimmiger werden, als sie es war, sie wird sich verzetteln und womöglich brüchiger werden, sie wird nicht immer linear oder gar abgeschlossen daherkommen.“ (Emcke. S. 105)

Wie könnte verständlicher über ein Ereignis berichtet werden, das durch seine Brutalität aus dem alltäglichen Erfahrungsrahmen herausfällt, als eben gerade mit einer irritierenden, brüchigen, „anderen“ Erzählung? Klug wendet sich Emcke mit ihrem differenzierenden Zusatz gegen den italienischen Philosophen und Holocaust-Experten Georgio Agamben, der den Traumatisierten von Auschwitz jegliche Sprech- und Handlungsmöglichkeit abspricht. Auch wenn es manchmal viele Jahre braucht, bis die Entrechteten eine Erzählung für die eigenen Erfahrungen finden, sollte man ihnen nach Emcke nicht von Grund auf die Möglichkeit absprechen, das Schweigen irgendwann selbst zu beenden.

Nur dürfen wir uns nicht wundern über die ungewöhnliche Art der Berichte, sondern müssen uns einlassen auf fremde, verstörende Erzählungen aus einer anderen Welt. Als Kriegsreporterin ist Carolin Emcke im Kosovo, Afghanistan, Gaza und Israel unterwegs gewesen und immer wieder auf Menschen gestoßen, die ihre Erzählungen loswerden mussten. Egal auf welche Weise, stotternd und stammelnd, scheinbar zusammenhanglos, bruchstückhaft. Trotzdem, oder gerade deswegen, hat sie zugehört und in weiteren, weniger theoretischen Essays im bereits genannten Band versucht, diesen schattenhaften Menschen eine Stimme zu geben, die gehört werden kann. Von den Kritikern (Siehe Süddeutsche Zeitung v. 31.10.2013. Tim Neshitov: „Last der Zeugenschaft“), ist diese nur konsequente Vorgehensweise nicht verstanden worden. Auf die theoretische Einführung in die allgemeine Problematik im ersten Essay, versucht Emcke in den folgenden Texten ihrem verantwortungsvollen Auftrag als Erzählerin nachzukommen. Dem Vorwurf Neshitovs, die Essays würden ihren „Fokus“ verlieren, ist zu entgegnen, dass Emckes Plädoyer für eine unabgeschlossene Erzählung in der praktischen Umsetzung gleichermaßen für die Autorin gilt. Sie selbst muss eine geeignete Form finden um über die Geschichten der Anderen berichten zu können. Durch autobiographische Einschübe durchbricht Emcke dabei ihren wissenschaftlichen Schreibstil und entspricht deswegen so gar nicht einer „verunsicherten Akademikerin“, die meint, dass sich „das Chaos der Welt im Zweifelsfall durch systematisierende Euphemismen erklären“ (SZ v. 31.10.2013) lässt. Im Gegenteil zeigt sich hier, dass wir mit einem simplen „Entweder-Oder“ nicht weiterkommen, weil sich uns eine Autorin mitteilt, die sowohl Wissenschaftlerin als auch Journalistin ist. Theorie und Praxis reichen sich somit die Hand. Überhaupt scheint Emcke in ihren Essays an eine grundlegende Fähigkeit des Menschen zu appellieren,  die im Zeitalter des Neoliberalismus leider immer mehr verloren geht:

Die Fähigkeit zuzuhören. Dabei geht es nicht um das mitleidige, distanzierte Zuhören, sondern das oft psychisch anstrengende, emphatische. Eine Eigenschaft, die den Menschen zum Menschen macht. Wenn wir den Opfern des Holocausts ihre eigene Erzählfähigkeit absprechen, dann nehmen wir ihnen auf übergriffige Art und Weise die Möglichkeit, sich wieder ihres eigenen Subjekts bewusst zu werden. Sie bleiben seelenlose Geister, mit deren Geschichte wir uns nicht weiter beschäftigen können. Und wie soll dann eine Erinnerungskultur entstehen? Ohne Erzählungen keine Erinnerungen. Kein noch so großes, in Stein gehauenes Mahnmal der Welt kann die Wirkkraft einer eindrücklichen Erzählung ersetzen. Emcke kritisiert zurecht den gut gemeinten aber irreführenden Satz eines Politikers, der nach seinem KZ-Besuch in Auschwitz schicksalsergeben twittert:

„Visit to Auschwitz changes you. No words to describe the enormity of this crime. We must never forget.“

„Wir dürfen niemals vergessen, dass es keine Worte gibt. Was soll das heißen? Woran sollen wir uns dann erinnern? Nur noch daran, dass etwas sich nicht beschreiben lässt? Wir sollen nie vergessen, dass wir nicht sprechen können von Auschwitz? Dürfen wir deswegen nicht sprechen?“ (Emcke S. 101)

Hier wird aus einem „Trauma“ ein „Fetisch“gemacht. Um dann nichts weiter mit der Sache zu tun haben zu müssen, weil man gegen übernatürliche Geschehnisse machtlos ist. Die Einfachste aller Lösungen ist demnach, das Böse als etwas dämonisches, übersinnliches zu beschreiben, um seine eigene Handlungslosigkeit zu rechtfertigen.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wie wäre es, den Satz von Wittgenstein umzuformulieren; aus dem Schweigen ein Schreiben zu machen? Ingeborg Bachmann hat es trotz Zweifel versucht, gegen die Grenzen der Sprache mit ihrer Lyrik anzudichten. Auch Anna Achmatowa meinte ‚dies‘ beschreiben zu können:

„Vielleicht glaubte Achmatowa wirklich, dass sie es könnte, ‚dies‘ zu beschreiben, vielleicht wusste sie auch nur, dass ‚dies‘ eben kein Paket aus Informationen ist, sondern dass es ein Moment der Brechung enthalten wird, dass ‚dies‘ übersetzt und transformiert werden muss.

Und vielleicht wollte sie es auch nur behaupten, wie ein utopischer Vorgriff auf jemanden, dem ‚dies‘ zu erzählen wäre. Vielleicht lag in dem ‚Ja‘ auch schlicht ihre eigene Handlung, dass es jemanden geben werde, dem zu vertrauen und dem ‚dies‘ zu erzählen wäre. Uns.

Und dass wir begreifen würden, dass jede Generation wieder neu vor einer Frau mit blauen Lippen stehen wird, die fragt:

‚Und Sie können dies beschreiben?‘, und dass jede Generation wieder neu eine eigene Form und Sprache finden muss, auf diese Frage mit ‚Ja‘ zu antworten.“ (Emcke. Weil es sagbar ist. S. 110)

 

Hier erklingt ein weiterer Appell an die Lauschfähigkeit der Zuhörer/innen, die zum Glück nicht nur Dichter besitzen. Bleibt fraglich, ob wir uns einlassen möchten auf die fremden Erzählungen der Anderen, um dabei erkennen zu können, dass keine Erzählung als absolut fremdes für sich alleine steht, sondern zu unserer aller gemeinsamer, eigenen (Un-) Menschheitsgeschichte dazugehört. Sonst wäre ein empathisches Einfühlen gar nicht möglich.

Die Autorin Carolin Emcke Quelle: Wikimedia Commons."Amrei-Marie"

Die Autorin Carolin Emcke
Quelle: Wikimedia Commons.“Amrei-Marie“

Carolin Emcke gelingt es in ihren Essays auf einzigartige Weise ihre erlauschten Erfahrungen in eine analytisch-poetische Sprache zu packen. Die dicken Brocken scheinbarer Unsagbarkeiten werden dabei für die Leser/innen in verständliche Kieselsteine der Sagbarkeit umgewandelt. In Teile eines irritierenden, endlosen Mosaiks die sich mit anderen Erzählungen verbinden lassen.

Um, mit Achmatowa und Arendt gesprochen, ‚dies‚ irgendwann (vielleicht) zu verstehen.

 

 

Copyright © 2024. Powered by WordPress & Romangie Theme.