Zwei Menschen sitzen auf einer Parkbank. Zunächst hatten sie sich nur neugierig beäugt. Der eine, junge Mann, in sicherem Abstand, dem älteren gegenüber. Monatelang hat er sein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern nicht mehr verlassen, lebt als Hikikomori, also als eine Person, die sich der Gesellschaft, dem Leistungsdruck, und dem Zwang, sich festen Normen anpassen zu müssen, verweigert. Er weiß nicht, warum er eigentlich überhaupt auf dieser Bank sitzt. Ängstlich, verzagt und fremd am Platz. Mit dem Eintreffen des älteren Firmenangestellten, dessen Funktion er an seiner Kleidung, einem Anzug erkennt, erfüllt ihn jedoch plötzlich Mitgefühl und ein seltsames Interesse an diesem fremden Mann, der eigentlich längst an seinem Arbeitsplatz sein müsste:
Er hatte ein Stück Brot bei sich. Umständlich wickelte er es aus dem Papier, zerriss es in immer kleinere Hälften, formte Kügelchen daraus und streute sie vor die gurrenden Tauben. Für euch, hörte ich ihn murmeln. Und als er fertig war: Ksch-ksch. Weiße Federn wirbelten auf ihn herab. Eine war auf seinem Kopf gelandet. Sie verfing sich in seinem zurückgekämmten Haar und gab ihm etwas Verspieltes. Wäre er in T-Shirt und kurzen Hosen dagesessen, man hätte ihn für ein Kind halten können. Sogar die Langeweile, in die er kurz danach verfiel, war die eines Kindes. Er witschte unruhig hin und her. Bohrte die Fersen in den Boden. Blähte die Wangen auf. Ließ die Luft langsam entweichen.
Die Melancholie, die der Hikikomori bei dem älteren Mann zu erkennen glaubt, ist der Gemütszustand, durch den er sich mit ihm verbunden fühlt, und der dazu führt, dass sie ins Gespräch kommen miteinander. Sie treffen sich nach dieser Schlüsselszene jeden Tag auf der Parkbank, bei Regenwetter in einer Jazzkneipe, und öffnen sich dem anderen ohne große Scheu. Kein typischer Smalltalk zerstört die eigentliche Begegnung, sondern jeder erzählt seine Geschichte. Beide umkreisen dabei die Gründe, warum sie außerhalb der Gesellschaft stehen. Sie tasten sich vor wie Blinde, ermunternd angeführt durch die andere, interessierte Person.
Sie hören sich einander zu, und horchen den Erfahrungen, ohne durch feste Bilder über den anderen vorgeprägt zu sein. Der jugendliche Ich-Erzähler erkennt in diesem Ereignis, dass er zwar immer noch in seinem isolierten „Gehäuse“ feststeckt, „sein Blick und die Anerkennung“, die ihm daraus „entgegengeleuchtet“, aber den „Raum“ um ihn herum erhellt. Man muss sich gar nicht jahrelang kennen, um sich dem anderen öffnen zu können. Oft reicht ein Gefühl der Verbundenheit, der Eindruck, vom anderen erkannt zu werden, um sich zeigen zu können, sich aufgehoben zu fühlen im anderen.
Erzählt wird hier die Geschichte zweier Menschen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stehen. Ein Firmenangestellter, der nicht mehr in der Firma ist, ein Schüler, der seit über einem Jahr nicht mehr in die Schule geht. Sie haben sich eingekapselt, und sind doch fähig, die richtigen Worte zu finden für ihre Melancholie, die ihren Rückzug aus der Welt zwingend gemacht hat. Es sind Worte und Sätze, die einem beim Lesen immer wieder die Tränen in die Augen treiben, weil sie den Dingen auf den Grund gehen. Einen Grund, der schmerzt, da er aus der engen Verbindung des Lebens mit der Liebe und dem Tod besteht.
Scheinbar kann dabei normalerweise nur der Alltag zu einer Art Zuflucht gegen diese schwer ertragbare Lebenserkenntnis werden. Nur indem wir uns einwickeln lassen in routinierte Tagesabläufe, uns fügen in die Verhaltensweisen, die man von uns im Arbeits- und Familienalltag erwartet, – nur dann können wir vergessen, dass das Leben im Grunde sinnlos, weil vergänglich ist. Aber gerade die Flucht in die Alltäglichkeit des „man“, der Allgemeinheit, um mit Heidegger zu sprechen, ist der eigentliche Tod. Der Tod der Möglichkeiten, einen unerwarteten, authentischen Weg einzuschlagen.
Die beiden Aussteiger auf der Bank sind vor der (lebendigen) Mumifizierung aufgewacht, und entziehen sich dem Alltag und seinen Anforderungen. Gleichzeitig finden sie im Gespräch miteinander wieder eine Zugehörigkeit, die sie auf neue Weise an die gefürchtete, alte Gesellschaft anknüpfen lässt. Im Gefühl, versagt zu haben, erkennen sie die Mechanismen, die zu diesem Gefühl geführt haben, und können sie entmachten. Zum Beispiel bemerken sie, dass sie beide durch patriarchale Strukturen an ihrem eigenen Lebensweg gehindert werden, weil die Erwartungen der Gesellschaft immer noch patriarchal-dominierte sind. Der Ich-Erzähler wünscht sich nichts sehnlicher, als einen guten Vater, was bedeutet, einen „gegenwärtigen“ Vater zu haben. Einen Menschen, der im Erwachsenwerden nicht verlernt hat, manchmal die Dinge durch die Augen eines Kindes zu betrachten. Einen Erzieher, der mit keinem von außen aufgezwungenen Anspruch den Sohn versucht, nach seinen Vorstellungen, den Vorstellungen der Gesellschaft, zu formen, sondern herauszuhört, was er selbst (sein) möchte.
Flasars Ich nannte ihn Krawatte ist ein Text, der im Beschreiben besonderer Menschen, immer wieder die Frage umkreist, warum wir dem „normalen“, den gewohnten Verhaltensweisen einen Vorrang gegenüber dem „anderen“, dem scheinbaren aus-der-Reihe-tanzen geben. Beide Charaktere sind wohltuende Störungen des Systems, die ein Guckloch durch den abgeschlossenen Alltagskäfig bohren, um die Möglichkeit zu geben, auszubrechen.
Ein Guckloch alleine genügt jedoch nicht, um den Mut aufzubringen, sein eigenes Leben anzupacken. Auch der eigene, von Geburt an normierte Blick auf die anderen muss sich gleichzeitig ändern. Er muss in die Tiefe der fremden Psyche gehen, um wahrhaftig zu erkennen. Das heißt: nur wer hinter die Fassade des Gegenübers blickt, weiß wirklich, wie es um dessen Seelenzustand steht. Manchmal kann diese Fassade ein schallendes, irritierendes Gelächter sein:
Wer in einem Lachen nichts anderes als ein Lachen hört, der ist taub.
Genau hinzuhören, und dabei nicht schon an der einladenden Oberfläche des Gesagten abzurutschen – das ist eine Botschaft der unzähligen Weisheiten, die in diesem Roman stecken.