In Iran lebt Chayas Vater in zwei Welten. Er ist Oberhaupt zweier Familien, Ernährer von zwei Frauen und zahlreicher Kinder. Für die junge Protagonistin des gleichnamigen Romans der Autorin Kathy Zarnegin ist das „Zuhause“ aus diesem Grund nichts einzigartiges, sondern austauschbar. Vielleicht ist es diese frühe Erfahrung von Heimatlosigkeit, die das aufgeweckte Mädchen von fernen Ländern, von Italien, also EUROPA, träumen lässt. Zeitgleich zur Reisesehnsucht, entwickelt sich bei ihr bereits in der Grundschule der Wunsch, mit Wörtern umzugehen, Sprache auf Papier festzuhalten.
Diskussionen über die ontologische Beschaffenheit unterschiedlicher Sprachen finden auch Einzug in den Familienalltag. Unter Anleitung der alleinstehenden Tante Farah, wird Abstand genommen von der nationalistischen Meinung der Mutter, dass das Persische wohl die schönste Sprache sei. So antwortet sie dieser bestimmt:
„Ich bin ja mit dir einverstanden, was den Reichtum der persischen Sprache und Literatur betrifft. Aber Persisch ist nicht die einzige Sprache auf der Welt. Jede Sprache hat ihre Seele. Jede Sprache kreiert eine eigene Seele, und wenn sich die Kulturen unterscheiden, dann auch deshalb, weil die Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen. Jede Sprache bringt eigene geistig-seelische Zustände hervor.“
Um andere „Seelenzustände“ erreichen zu können, muss man Sprachen lernen. Als 14-Jährige wird Chaya in die Schweiz geschickt und möchte von nun an in der Fremde der Beantwortung der Frage nachgehen, was das Leben sei. Zunächst verliert sie, gleichbedeutend zum Verlust der Muttersprache, ihre Kindheit. Sie wird sich nicht so schnell wieder auf leichte, selbstverständliche Weise ausdrücken:
„Weg war die Kindheit und mit ihr die Sprache, die man Muttersprache nennt und an die man erst denkt, wenn man sie nicht mehr sprechen kann. Man realisiert es nicht gleich zu Beginn, sondern erst im Nachhinein. Sowie man sich auch bei den Symptomen einer Krankheit nicht für krank hält.“
Mit dem „Stock“ in der Hand, der fremden Sprache auf der Zunge, erkundet die Protagonistin ihre Umgebung. Es zeigt sich hierbei, dass gerade der Verlust der vermeintlich festen (sprachlichen) Identität, die Protagonistin einen befreiten Lebensentwurf ergreifen lässt. Sie studiert Philosophie, eröffnet eine Gedichtagentur, und das erstaunlichste von allem: sie schreibt Gedichte auf Deutsch. Das geht nur, wenn man die „Milchundhonigsprache“ radikal aufgibt.
Für viele ist Chaya trotz ihrer Integrationsbereitschaft in der Schweiz die Exotin, und es macht Spass zu lesen, wie reflektiert sie mit den Klischees umgeht, die ihr tagtäglich begegnen. In manchen Momenten legt die Autorin sie ihr selber in den Mund, und deckt dadurch die Banalität der festgesetzten Bilder über fremde Kulturen verstärkt auf.
Ihre naiven Traumvorstellungen von Europa werden schnell getrübt, als ihr die negativen Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsform auffallen:
„In Europa genügte es nicht, einfach nur da zu sein. In Europa arbeitete man. Erst die Arbeit definierte die Menschen, machte sie sichtbar und zugänglich für die anderen.“
Im Orient ist die „Verfügbarkeit von Zeit“ eine Selbstverständlichkeit. Symbole für diese Lebenseinstellung, sind die Pistazien oder Sonnenblumenkerne in den Hosentaschen der Männer. Trotz aller gesellschaftspolitischen Probleme in Iran, wünscht man sich nach Lektüre dieser Textpassage, einer besonders eindrücklichen, an einen anderen Ort, vielleicht Teheran, in ein Kaffee, in dem Tee in einem Samowar zubereitet wird, und ohne Zeitdruck Pistazien geknackt werden. Geistig begleitet das Knabberzeug die Protagonistin im hektischen Alltag in der Schweiz, gibt ihr die Muße, sich zwischendurch zurückgezogenen Dingen, wie dem Gedichteschreiben zu widmen.
Zur Sprachthematik gesellt sich ein weiteres Thema: Die Liebe. Wie könnte es anders sein, denkt man sich. Eine schöne, junge Frau aus dem „Orient“, Dichterin, Sprachenlehrerin, ist Mitte der 70er Jahre in der Schweiz eine wahre Exotin, und wird gerade im Künstlermilieu von Männern verehrt. Womit Chaya nicht rechnet, sind die Ungerechtigkeiten, die sich selbst in einem scheinbar emanzipierten Paradies zwischen den Geschlechtern abspielen. Die Stimme der Tante Farah im Ohr, die sie davor gewarnt hatte, dass man als Frau in Iran erst als „Prinzessin“ und später nach der Hochzeit „wie Viehfutter“ behandelt werde, kommentiert Chaya das Verhalten ihres Geliebten in einem Brief folgendermaßen:
„Lieber David, die Literatur, die du so gerne und oft zitierst, hat in der Rolle der liebenden Frau lauter liebende Idealmamis produziert. Allesamt Mütter. Ob die sich nun aufopfern, sich umbringen oder aus Liebe ein Verbrechen begehen (…). Was meinst du dazu, David? Gibt es keine Frau in der Liebe für euch? Ist eure Liebe nur die zur Mutter und die Frau muss ‚außerhalb‘ erfunden werden?“
Chaya fühlt sich, als reine Projektionsfläche, nicht gesehen von den anderen. Auch weil der eurozentristische Blick der Bioschweizer zu unflexibel ist, um sie genau in der Sprache wahrzunehmen, in der sie angenommen werden möchte. Immer wieder wird ihr vorgeworfen, sie sei unauthentisch, wenn sie ihre orientalischen Wurzeln abstreife. Dabei erkennt die junge Abenteurerin durch ihre Erfahrungen etwas, das Jahre später erst u.a. in den Geisteswissenschaften Thema wird:
dass das Fremde Teil des Eigenen ist und umgekehrt; sich Lebensgeschichten unterschiedlicher Menschen miteinander verzahnen, und man „nicht mehr sagen kann, um wessen Geschichte es sich handelt.“
Die Protagonistin richtet sich in einer Sprachenvielfalt ein, die Schmerz und Freiheit zugleich bedeutet. Der ambivalente Verlust der dominanten „Mutterzunge„, ein Bild, das ich der gleichfalls transkulturell geprägten Autorin Emine Sevgi Özdamar entnehme, wird von Kathy Zarnegin als Möglichkeit beschrieben, in mehreren Sprachen zu leben:
„In einer Geistersprache, die einst meine Muttersprache war, in meiner neuen, haltlosen Sprache, die auf Krücken ging, und in einer, die dazwischen lag und die niemand verstand, weil sie keine Worte hatte, sondern nur aus Stimmungen und Schwingungen bestand.“
„Chaya“ ist ein Roman, der in das Raster „deutsche Literatur von AutorInnen mit transkulturellem Hintergrund“ passt. Wer die Literaturlandschaft genauer betrachtet, stellt allerdings fest, dass „deutsche Literatur“ längst transkulturell ist. Nicht nur auf poetologischer Ebene ist der Text deswegen ein Gewinn, sondern auch zur Vergegenwärtigung einer bereichernden Tatsache.