Kategorie Archiv:Erinnerung

Das Leben als Wimmelbild. Karosh Taha. Beschreibung einer Krabbenwanderung.

Karosh Taha. Beschreibung einer Krabbenwanderung.

Erinnerungen können Neuanfänge manchmal unmöglich machen. Während die junge Protagonistin Sanaa in Karosh Tahas Debüt Beschreibung einer Krabbenwanderung die Flucht nach vorne antritt, den „Krabben“ der Vergangenheit davonläuft, verfällt die Mutter körperlich und seelisch, schwebt wie ein Geist durch die beengten Wohnzimmer der Hochaussiedlung in Deutschland. Den Irak haben sie schon seit einigen Jahren verlassen, anscheinend auf Wunsch des Vaters, um den sich unbestätigte Geschichten ranken, weil er selber kaum zu Wort kommt. Aber das braucht er auch nicht, denn die Stimme der Ich-Erzählerin ist beeindruckend genug. Die Stimme einer modernen, emanzipierten Frau, die ohne ihre Familie, die sie wie schwer abstreifbare Vergangenheitspäckchen auf ihrem Rücken trägt, längst angekommen wäre in dem Land, in dem sie frei sein möchte.

Die depressive Stimmung zu Hause, aber auch die Belagerungen der Wohnung durch ihre Tanten, den Sittenwächterinnen, treibt Sanaa zu extremen Handlungen. Sie raucht, liebt mehrere Männer und nutzt das Studium als Alibi, um länger ausbleiben zu dürfen. Ihren bösartigen Tanten mischt sie Marihuana in den Tabak, weil er sie mal in weise Dorfälteste, aber nie in gehässige Kurdinnen verwandelt. Sanaa hat ihre Strategien um sich zu wehren, da sie intelligent ist und einen Freiheitsdrang besitzt, der sie vorwärts treibt, auch wenn sie (noch) nicht weiß, wohin.

Aber auch auf der Straße lauern Gefahren. Da ist zum Beispiel der dicke „Volvomann“, der sie seit Tagen ungefragt verfolgt, und der in ihr ein nervöses Kopfkino verursacht, das die Lektürespannung erhöht. Wer ist dieser Mann, der nichts anderes zu tun hat, als Sanaa aufzulauern, zu beobachten, wie sie sich mit ihren unterschiedlichen Männern trifft, Döner isst, oder einfach nur ihren Onkel zur Moschee fährt? Bis zuletzt bleibt diese Frage unaufgelöst, schwebt wie ein bedrückender Schatten über den Alltags- und Milieubeschreibungen in der Migrantenhochhaussiedlung, in der die unterschiedlichsten Charaktere beschrieben werden. Ein bißchen erinnert das an Alaa Al-Aswanis Bestseller Der Jakubijân Bau, der in einem dicht besiedelten Haus in Kairo spielt.  Mit dem Unterschied, dass wir uns hier natürlich in Deutschland befinden, und es ein weiblicher (!) Blick ist, der betrachtet, ein schreibendes Bewusstsein in einem Frauenkörper. Ihre pubertierende Schwester Helin gerät dabei oft in ihr Sichtfeld:

Sie laufen zum Kiosk, und ich beobachte jede einzelne von Helins Bewegungen, die mal mit ihren Haaren spielt, die kichert, die ihre Freundin anstupst, die mich zu ignorieren versucht, die aussähe wie jedes beliebige Schulmädchen, wenn ich sie nicht kennen würde. Wenn ich nicht wüsste, dass sie mit sechs nur geheult hat, dass sie mit vierzehn einen Zirkel in die Wange gestoßen bekam, dass sie jede Nacht ihre Muschi reibt und ich mich frage, ob es ihr nicht langsam wehtut.

Helin fügt sich zum Ärger ihrer Schwester in das vom Patriarchat vorgegebene Bild, wie eine junge Frau zu sein und was sie anzustreben hat. Sie möchte die Schule abbrechen, eine Ausbildung als Kosmetikerin machen, um früh heiraten zu können. Letztlich leidet sie genauso unter der psychischen Erkrankung der Mutter wie ihre Schwester und sucht Halt in dem, was sie kennt, was ihr von den Erwachsenen immer schon vorgelebt wird.

Das Hochhaus steht aber nicht nur für Beengung und Depression. Der Mikrokosmos, mit all seinem Leben darin,  der sich jeden Tag aufs Neue vor der Protagonistin ausbreitet, bietet eine gesunde Ablenkung von den Gedanken an die kaputte Kleinfamilie, erinnert an das Werk einer Künstlerin, eines Künstlers, das es lohnt, näher zu betrachten:

Ich schaue auf das Hochhaus, das mit dreihundertachtundsechzig Augen zurückschaut. Die Anzahl der Augen entspricht nur zu einem Drittel der Wahrheit, trotzdem halte ich den Blicken stand, ziehe genüsslich an meiner Zigarette und erforsche das Hochhaus wie ein Wimmelbild: Auf den Balkonen hängt regungslos verwaschene Kleidung an den Wäscheständern, weil selbst der Wind das Viertel nicht besucht. Auf wenigen Balkonen stehen Blumentöpfe ohne richtige Blumen, nur mit Löwenzahn, der aus Versehen blüht.

In einem Wimmelbild gibt es viel Buntes zu entdecken und gleichzeitig besteht die Gefahr, sich darin zu verlieren, keinen Ort zum Verweilen zu finden, den man als seinen Platz wiedererkennt. Sanaas Mutter beginnt irgendwann, angeleitet von ihrer Tochter und einer Freundin, irakische Süsswaren zu backen, die sie aus ihrer Depression herausholen. Der verlorengeglaubte Backofenduft der Vergangenheit gibt ihr Halt in der Gegenwart. Das Eigene, das köstliche irakische Gebäck, wird Teil des Fremden und setzt bei der Mutter Asija sinnstiftende, bewusstseinsstärkende Kräfte frei.

So einfach geht das bei Sanaa nicht, die in ihrem Gefühlschaos schwer Entscheidungen fällen kann, was nur am Rande mit ihrer transkulturellen Herkunft zu tun hat.

Beschreibung einer Krabbenwanderung ist gerade deswegen auch ein hochaktuelles Jugendbuch für die heutige Generation, weil es das Lebensgefühl Heranwachsender authentisch und mit Spannung erzählt – egal welchen kulturellen Hintergrund sie besitzen.

 

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