Monats-Archiv:August, 2014

Peter Kurzeck: Ein Erzähler ohne Bewusstseinstrübungen

„Sich erinnern. Und auch wer wir selbst sind. Sich erinnern und heimfinden.

               Wie die Zeit vergeht.“

(Kurzeck, Peter. Als Gast. Frankfurt, 2012)

Der Autor Peter Kurzeck

Der Autor Peter Kurzeck. Foto von Wikimedia Commons / „Liberal Freemason“ – CC3.0

Im Erinnerungsfluss sich sein Leben erzählen. Der Frankfurter Autor Peter Kurzeck hat es ein Lebtag lang versucht. Immer wieder nach den richtigen Worten gesucht, um sich sich selbst in dieser Welt überhaupt vorstellen zu können. Im Hier und Jetzt. An der Bockenheimer Landstraße entlang ins ausgestorbene Westend hinein. Ein einsamer Fußgänger mit Vergangenheit, vergangener Zeit, an die er nicht aufhören kann, sich zu erinnern. Ein Wettlauf gegen die Zeit mit der Zeit; wohin werden ihn seine müden Beine tragen?

Peter Kurzecks mehrteilig-unvollendetes und im Frankfurter Stroemfeld Verlag erschienenes Romanprojekt „Das Alte Jahrhundert“ erfordert Konzentration und die Bereitschaft sich voll und ganz einzulassen auf einen Protagonisten, der sich ohne gesunden Selbstschutz seiner Mitwelt aussetzt. Der wie ein Schwamm sämtliche, auf ihn einstürzenden Erfahrungen in sich aufnimmt, um dann damit zurecht zu kommen. Es gibt für ihn keinen Alkohol (mehr) und auch keine sonstigen Drogen, um die Wirklichkeit erträglicher zu empfinden.

Kurzeck. Als Gast. Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Als Gast.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Wenn man sich hinein begibt in diesen dichten Erzählstrom, dann eröffnen sich Wahrnehmungswelten, die eine vergangene Zeit lebendig werden lassen. Im Roman „Als Gast“ z.B. die beginnenden 80-er Jahre in Frankfurt Bockenheim:

„Eine Frau. Nicht mehr jung. Leere Einkaufstaschen. Im Kopf eine lange Liste mit Sorgen und alles, was sie nicht vergessen darf. Vielleicht lacht sie gern, aber hat schon lang nicht gelacht und weiß nicht mehr, dass sie gern lacht. Weiß nicht mehr, wie es geht. Vielleicht eine Griechin, die am Rand von Bockenheim oder in Ginnheim, in Hausen, in Rödelheim wohnt und hat eine Arbeit bei Hartmann und Braun oder im HL, beim Plus, beim Penny, beim Aldi, beim Schlecker zur Aushilfe und dazu noch vier Putzstellen. Alle Tage eine große Familie oder schon lang mit sich selbst allein.“ (Als Gast S. 412)

Voller Empathie betrachtet der Protagonist eine unbekannte Frau, dichtet ihr ein Leben an, das genau so sein könnte. In der Phantasie des Beobachters ist auch sie mit ihren Sorgen ganz alleine, kämpft jeden Tag neu ums Überleben. Beim Lesen von Kurzecks Romanen werde ich manchmal an den Frankfurter Autor Wilhelm Genazino erinnert, weil auch er Seite um Seite mit Beschreibungen alltäglicher Szenen auf der Straße füllen kann. Worin sich beide allerdings unterscheiden, ist die emotionale Ebene. Den Figuren Genazinos fehlt die empathische Anteilnahme in der Beobachtung; sie empfinden bestenfalls Mitleid für ihr Gegenüber. Personen oder Geschehnisse werden dabei vom Ich-Erzähler mit einer entlarvenden Schonungslosigkeit beschrieben, zu der Kurzecks Figuren niemals fähig wären.

Vielleicht halte ich Kurzeck deswegen für einen politischen Autor. Weil er es durch seine sensiblen Alltagsbeschreibungen erreicht, ohne forciert-moralisierenden Grundtenor auf soziale Missstände hinzuweisen. Beobachtete, fremde Objekte werden in den Selbstgesprächen des Ich-Erzählers zu Subjekten mit einer eigenen (leidvollen) Geschichte, die er erzählen muss, weil er sich ein stückweit auch immer mit ihnen identifiziert. Sein eigenes Leben in den beschriebenen, (fiktiven) Geschichten der Anderen wiederfindet. Aus diesem Grund braucht er manchmal auch einen ganzen Tag für ein paar Sätze. Die Arbeit eines Schriftstellers lässt sich nicht alleine am schriftlich fixierten output messen; die oft zermürbende Sammelei von Eindrücken gehört genauso dazu. Aber erzähle das einmal dem Arbeitsamt:

„Und wenn Sie nicht schreiben? fragt Anne. Die Pausen? Trotzdem, sagte ich, auch wenn man nur anderthalb Sätze am Tag, man braucht immer den ganzen Tag dafür!“ (Als Gast. S. 408)

Die innerliche, einsame, von Selbstzweifeln erschütterte Schreibarbeit hört niemals auf. Zeitmangel ist deswegen immer vorhanden, weil die Ruhepausen fehlen, in denen die Zeit gefühlt langsam verstreichen könnte:

„Im Verzug, sagte ich. Mit der Arbeit und mit meinem Leben. Seit Jahren schon und mit jedem Jahr mehr! Sagt man in oder im Verzug? Vergangen die Zeit!“ (Als Gast, S. 395)

Seiner Schreibarbeit bleibt er auf die Art immer etwas schuldig, hinkt den zu vollendenden Sätzen hinterher. Er klingt wie ein genervter Chef, der seinen Angestellten darauf hinweist, dass er die Arbeit zu langsam erledigt hat und deswegen ein elender Versager ist. Arbeit und Leben gehen eine unentwirrbare Sinnsymbiose ein, die für heutige, vom Kapitalismus geprägte Lebensentwürfe oft selbstverständlich scheint. Peter Kurzeck übernimmt dabei typisch formalisierte Begriffe aus der Arbeitswelt, um damit sein Außenseiterleben als Schriftsteller infrage zu stellen. Der Protagonist weiß, wie es zugeht in der Welt des Broterwerbs und hat sich eines Tages für den unsicheren Weg entschieden, weil es nicht anders ging. Die Worte in seinem Kopf, auf dem Gehsteig oder im Eiskaffee aufgesammelt, in eine Form gebracht werden mussten. Der Frau auf dem Sozialamt, wie sollte er ihr nur erklären, was er da tat. Etwas ohne sichtbares Resultat für diejenigen, die nicht richtig hinsehen wollten. Diejenigen, die nicht wie er dem Bann der Sprache verfallen waren, keine Sprachpoesiejunkees weit und breit in den Büros, die fühlten, was er empfand. Und trotzdem. Immer wieder. Auch wenn er oft nicht mehr wollte, sich nach einer „ordentlichen“ Arbeit sehnte, nach einer anerkannten Existenzberechtigung. Solange sich ihm die Worte immer wieder auf seinen Streifzügen durch die Stadt aufdrängten, sich ohne kurze Bewusstseinstrübung ihren Erzähler holten, blieb ein kleiner Trost. Er konnte so tun, als ob wenigstens die Zeit in solchen Momenten ganz ihm gehörte:

Kurzeck. Übers Eis.<br /> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Übers Eis.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jetzt auf dem Heimweg im Gehen im Kopf schon zu schreiben anfangen. Als ob mir das zusteht. Arbeitslos, Schriftsteller. Daß es eine Zeit gibt. Daß die Zeit mir gehört. Und auf jedem Weg dir weiter dein Leben ausdenken.“ (Kurzeck. Ein Kirschkern im März. S. 220 Band 3)

Peter Kurzeck wurde als kleiner Junge 1946 mit seiner Familie aus dem Sudetenland vertrieben und verbrachte seine Kindheit mit seiner Mutter und Schwester in Staufenberg bei Gießen. Das Vorwort aus dem dritten Band „Ein Kirschkern im März“ lautet dann bezeichnenderweise auch: „Von weither und fremd, überall fremd. Aus Böhmen und ohne Haus.“ Fremdheit ist der durchgängige Hintergrundblues in den Bänden „Das Alte Jahrhundert“. Auch bei guten Freunden fühlt sich der Protagonist nur als „Gast“. Ein Traumwandler, der sich seines Zustandes von Jahr zu Jahr bewusster wird, ihn aber auch bei anderen wahrnimmt:

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.<br> Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

Kurzeck. Ein Kirschkern im März.
Quelle: Stroemfeld Verlag Frankfurt a. M.

„Und jeder in seinem eigenen Traum, zeitlebens in seinem eigenen Traum gefangen.“ (Peter Kurzeck. Übers Eis. Seite 142. Band 1)

Wie können der fortschreitende Wirklichkeitsverlust gestoppt und mögliche Alpträume verhindert werden? Eigentlich durch neu gemachte Erfahrungen, dadurch, dass der Protagonist nach vorne schaut und schmerzreiche Erinnerungen schriftlich verarbeitet werden. Genau das geht nur mithilfe der Worte, dem permanenten Versuch, unbeschreibbares auszubuchstabieren. Aus dem Inneren herauszuschreiben und sich der Öffentlichkeit zu erklären. Um sich dann Schritt für Schritt seiner eigenen Existenz in dieser Welt gewiss zu werden.

Trotz der oft sehr schwermütigen Stimmung in Kurzecks Poetologie bleibt zuletzt immer die Hoffnung auf eine bessere Zeit. Hoffnungsboten sind die Kirschkerne im März, die unter der Schnee- und Frostdecke überwintert haben. Sie erzählen vom Frühling, der die müde Kälte vertreibt und die Lebensgeister weckt. Den Frühling 2014 konnte Peter Kurzeck nicht noch einmal erleben, weil der neblige November stärker war. Der Monat im Jahr, in dem die guten Geister sterben. Vielleicht findet dieser Blog im Gedenken an diesen besonderen und leider viel zu unbekannten Schriftsteller Leser/innen, die trotz Hektik und Stress im Alltag weiterhin auf die Kirschkerne und deren glückversprechende Nachricht achten. Damit wir, mit Kurzeck gesprochen, nicht selbst „zu Gespenstern werden“, sondern hellwach unseren individuellen Geistern ihren Überlebenswillen zurückgeben.

I hope so.

„Noch einmal die Seestraße entlang. Müd, immer müder. Die Zeit ruckt. Und jetzt kommt die Dämmerung. Grün die Luft, Abend. Und in allen Höfen, in jedem Baum, unter jedem Küchenfenster singt eine Amsel. Vorfrühling, ein langer schmerzhafter Vorfrühling.“ (Kurzeck. Kirschkern. S. 232)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lili Grün: Ein Leben zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit

Im ersten Blogbeitrag hat sich die österreichisch-jüdische Schriftstellerin Lili Grün (1904-1942) bereits zu Wort gemeldet. Eine Stimme bei der es sich lohnt, eine längere Zeit zuzuhören. Exemplarisch möchte ich vier Gedichte von ihr vorstellen, die thematisch die Bereiche (Arbeits-) Alltag, Liebe und Tod behandeln. Die Texte habe ich dem gerade neu erschienenen Band „Mädchenhimmel“ des Berliner AvivA-Verlages entnommen, in welchem es im Nachwort, verfasst von der Herausgeberin Anke Heimberg heisst, dass kein Nachlass der Autorin mehr existiere. Deswegen muss ich mich an Einzelveröffentlichungen der Autorin in Zeitungen aus den 20-er / 30-er Jahren halten; Texte, die der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entgehen konnten. Außer Gedichten und kurzen Erzählungen hat Lili Grün Romane geschrieben, die in diesem Blog nicht thematisiert werden. Das lyrische Ich im Gedicht „Notschrei einer allzu Braven“ hat mir beim Lesen direkt zugezwinkert, will heißen, der Text hat es geschafft – was bei dieser Form von Literatur nicht selbstverständlich ist – Kontakt aufzunehmen, ungefiltert zu mir zu sprechen:

Notschrei einer allzu Braven

Ach, ich geh mir selber auf die Nerven,

Weil ich gar so artig bin,

Und voll unentwegter Pflichterfüllung

Steck‘ ich stets in meiner Arbeit drin.

 

Niemals tu‘ ich einen Schritt vom Wege,

Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh‘

Meinen Mann ich, und die Leute sagen,

Daß man so was nur begeisternd finden kann.

 

Doch dies ew’ge Schulterklopfen

Find‘ ich unerträglich und gemein,

Und ich fleh‘ zum blauen Sommerhimmel:

Herrgott, laß mich einmal anders sein!

 

Laß mich tolle Kapriolen schlagen,

Laß mich lasterhafte Dinge sagen,

Laß mit angeklebten Wimpern

Meine Äuglein herzlos klimpern,

Laß mich faul auf meinem Diwan liegen

– Und in diesem Zeichen – Herrgott –

Laß mich siegen!

 

Niemand kann sich selbst entrinnen,

Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm –

Und die andern sind die Schlimmen –

– Wenn ich noch so neidisch bin!

 

Vielleicht ist es der „Notschrei“ nach dem  Anders-Sein, die kompromisslose Sehnsucht nach einem existentiellen Ausbruch aus der (eigenen) Identität, der aufhorchen lässt. Eine Identität, die aufgrund sozialer Prägungen entwickelt worden ist, und die das lyrische Ich performativ immer wieder selbst bestätigt. „Artig“ und „brav“ fügt sich das Ich, wie es sich für liebe „Mädchen“ gehört, in seine zugedachte, scheinbar feste Rolle. Angepasst und massentauglich geht es einer geregelten Arbeit nach und kann sich dabei nicht einmal über ein schulterklopfendes Lob von den Anderen freuen. Weil der Verblendungszusammenhang, mit Adorno gesprochen, eben nicht verblendend genug ist, um auch die Gefühle im Alltagsnebel zu ersticken. Die Emotionen melden sich in einer ruhigen, nachdenklichen Minute zu Wort (zum Glück!); Wut entlädt sich im kriegerischen Ausspruch: „Lass mich siegen!“. Es stellt sich die Frage, über wen das Ich eigentlich siegen möchte. Über seinen inneren, unüberwindbaren Schweinehund, sich endlich aus vorgegebenen Geschlechterstrukturen zu befreien, damit aus dem braven, angepassten Mädchen eine emanzipierte Frau wird? Eine Frau, die es sich leisten kann, mit „angeklebten Wimpern“ und trägem Gemüt auf dem häuslichen „Diwan“ einzuschlafen, dabei lasterhaft zu träumen, ohne sich gleich als schlechtes Frauenzimmer zu fühlen? Ein Sieg über tyrannische Normen wäre auch ein Sieg über bestehende politische Verhältnisse. Angepasstheit lässt das individuelle Subjekt in den Hintergrund treten, eine allgemeine Gleichheit ersetzt die einzigartige Vielfältigkeit des Einzelnen. In der letzten Strophe betont das Ich mit resignierendem Tonfall noch einmal die feststehende, unbewegliche Identität jeder einzelnen Person, schicksalergeben zieht es einen Trennungsstrich zwischen den „Braven“ und den „Schlimmen“ mit einer konsequent essentialistischen Haltung, die eine Veränderung des „Eigenen“ als Unmögliches begreift. Das Einzige was dem Ich bleibt, ist der Neid auf das machtvolle Andere um dabei immer wieder Gebete in den Himmel zu schicken, die nicht erhört werden, weil ein echter „Sieg“ nur durch den Ausbruch aus der eigenen passiven Haltung erreicht werden könnte.

Weiterführend soll nun ein Gedicht betrachtet werden, das das „brave Mädchen“ als „brave Arbeiterin“ in einem (bis heute) klassischen Frauenberuf, demjenigen der Stenotypistin, genauer charakterisiert:

 

Lied der Stenotypistin

Wir müssen den ganzen Tag tippen.

Mit brennenden Augen und schmerzendem Rücken

Bestätigen wir ihr Wertes vom Soundsovielten,

Das wir mit bestem Dank erhielten.

 

Wir haben nur eine Sehnsucht: auszurasten

Von des Tages ewigem Lärmen und Hasten,

Denn unser armes Hirn ist müd und leer,

Wir haben keine bessere Sehnsucht mehr.

 

Unsere großen, mutigen Gedanken

Sind gestorben in des Alltags Schranken,

Unserer Herzen große Zärtlichkeit

Ist gestorben in des Alltags Leid.

 

Auch wir würden verstehn,

Kostbare Kleider zu tragen,

Auch wir würden verstehn,

Zärtliche Worte zu sagen.

 

Doch wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen,

daß wir uns hiermit beeilen,

Ihnen das gewünschte Offert vorzulegen,

Um mit Ihrem Vertreter nochmalige Rücksprache zu pflegen…

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach der großen Leidenschaft,

Doch das kommt ja nicht in Frage,

Denn wir sind: eine perfekte Kraft.

 

Manchmal packt uns eine Sehnsucht

Nach kindischen Freuden, dumm und toll,

Doch wir erwarten Ihr Geschätztes

Und zeichnen ergebenst hochachtungsvoll…

 

Das Pflichtbewusstsein einer „perfekten Kraft“ wird in diesem Gedicht immer wieder durch emotionale Ausbrüche infrage gestellt. Der permanente Wechsel zwischen objektivem Zwang und subjektiven Empfindungen macht deutlich, wie unausgeglichen das angepasste Subjekt sein Leben als Alltagstotgeburt fristet. Absorbiert von einem System, in dem eigene Wünsche und Hoffnungen keine Entfaltungsmöglichkeiten finden, versteckt sich das Ich hinter der vorgegebenen Rolle einer Sekretärin. Es fügt sich in die Erwartungshaltung anderer, um Teil des Arbeitswerkzeugs, der Schreibmaschine, zu werden. Was wir nach außen sind, haben wir auch nach innen hin zu sein. Wenn das nur so einfach wäre, wenn es dem Ich nur gelingen würde, seine Selbstreflexion über den eigenen Zustand ausschalten zu können. Aber nein. Immer wieder funken Emotionen der Sehnsucht und der Leidenschaft dazwischen, sträuben sich gegen den angestrebten Perfektionismus. Möchten raus aus dem Kasten um „kindische Freuden“ erleben zu dürfen. In der hier beschriebenen Arbeitswelt wird jeder mögliche Anspruch das Leben einer Anderen zu führen ausgeblendet. Es gibt für die arbeitende Frau in den 30-er Jahren nur diesen körperlich und seelisch harten Frauenberuf um sein eigenes Brot zu verdienen. Der Chef diktiert, die Stenotypistin tippt fleißig. Mit den Gedanken aber ist sie irgendwo über den Wolken. Lili Grüns manchmal naiv klingende Poetologie erfährt nicht nur in diesem Gedicht eine reflexionskritische Ebene, die besonders durch den ironisierenden Ton  erzeugt wird. Es könnte auch alles anders sein…wenn… die Erwerbsarbeit kein „müdes Hirn“ entstehen ließe und somit jegliche Formen der Sehnsüchte abtöten würde.

Etwas leichtfüßiger kommt das Gedicht „Elegie bei einer Tasse Mocca“ daher, das als Versuch, dem drögen Alltag durch Liebesfluchten zu entgehen, gelesen werden kann. Lili Grüns Sinn für Humor scheint hier unverkennbar auf:

 

Elegie bei einer Tasse Mocca

Mein letzter Freund war ein Jurist.

Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.

Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,

Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich

nervös.

Darum wünsch‘ ich mir zum nächsten Verehrer

Beispielsweise einen Volksschullehrer.

Ein Mann, der den ganzen Tag kleine Kinder unter-

richtet,

Muß doch, nebst Verstand und anderen Gaben,

So etwas wie eine Seele haben.

Und ich bin so scharf auf Seele!

 

Jedoch für Stimmung und Poesie

Wäre die einfachste Lösung ja die:

Man könnte einen Landpastor bekommen.

Aber die Leute sagen, es wird so schwer gehen,

Und ich muß ja selbst gestehen:

Durch meinen vergangenen Juristen

Habe ich so wenig Umgang mit Christen.

Und wenn man bedenkt, wie selten sich so ein Landpastor

Ins Romanische Café verirrt,

Muß man zugeben, daß es einigermaßen schwer sein

wird!

Der Ausruf: und ich bin so scharf (…) klingt ungemein vertraut in unseren Ohren. Man hat den Eindruck, da äußere sich gerade ein in den 90-ern geborener Teenager über seine Freundin, seinen Freund. Das Objekt „Seele“ ist dann schon eher veraltet. Ausgestorben ist der Begriff in seinem Gebrauch heutzutage geradezu. Seelenlosigkeit scheint mittlerweile eine gute Voraussetzung zu sein um auf dem freien Markt Erfolg zu haben. Die erfüllte Liebe wird beim lyrischen Ich eng an die Berufswahl einzelner (zukünftiger) Geliebter gekoppelt. Ein Jurist hat keine Seele, ein Lehrer könnte eine besitzen, wäre aber für eine aufstrebende Künstlerin mit kreativem Potential ein Stimmungentöter. Also doch der Landpastor? Hier stellt sich eine elementare Frage: Welche Wahl ist für eine Künstlerin die richtige, wenn ihr kreativer Freiraum in der Beziehung erhalten bleiben soll? Für „Stimmung und Poesie“ scheint der klassische Ernährer nicht der richtige Partner zu sein, aber eine starke Schulter klingt dennoch verlockend, weil da einer wäre, der das lästige Brot verdient. Die erfüllte Liebe wird als Utopie entlarvt, weil ein einzig mögliches Entweder-Oder, eine Frau die auf ihre Selbstbestimmung wert legt, niemals glücklich machen kann. Vielleicht wären zwei Männer etwas? Oder noch eine Frau zum Mann? Legen wir uns darauf fest, dass es ein Mensch mit Seele, d.h. mit einem ausgeprägt-feinfühligen Charakter sein sollte…

Der Tod wiederum gilt als erbarmungsloser Seelenfänger. Und genau diesen schwierigen Gesellen versucht das lyrische Ich im vierten Gedicht „Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn“ um den Finger zu wickeln:

 

Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn

Ach, glaube nicht, ich dächte, man könnte dich bestechen!

Was hätt‘ es für einen Sinn, gerad‘ mit dir über das Leben

zu sprechen.

 

Du ahnst ja nicht, wie schön es ist, von dieser Welt zu sein!

Es ist so schön, ins Kino zu gehn,

Um einen kitschigen Tonfilm zu sehen.

Schön ist es, im Gras zu liegen

Und zuzusehen, wie die Maikäfer fliegen,

Und es ist so lieb, wenn uns ein Mann in den Armen hält,

Und sein Mund, der uns küsst, ist die ganze Welt…

 

Ich weiß ja doch, daß es dich einmal gibt.

Drum, wenn du kommst, komm nicht als Feind!

Fall‘ mich nicht tückisch von rückwärts an,

Komm nicht als Unfall in der Eisenbahn,

Komm nicht als Räuber aus dem Hinterhalt,

Und vor allen Dingen: komm nicht zu bald.

 

Und wenn du kommst, leg deine kühle Hand

Zuerst auf den Verstand.

Denn ich will von dir nichts wissen.

Und mit dem Herzen geh‘ ein wenig freundlich um,

Mach es nicht bös!

Es war, solang es lebte, schon nervös!

Und es war immerzu verliebt.

Es fürchtet dich und deinen kalten Kuß,

Und es wird nie verstehn,

Daß es dich geben muß.

 

Der Versuch, den Gevatter Tod von den Qualitäten des Lebens erzählend zu überzeugen, ist paradox, weil er nun einmal dafür steht, genau dieses zu beenden. Trotzdem plädiert das Ich an dessen Humanität, zählt unermüdlich die sonnigen Seiten der Existenz auf und leistet Überzeugungsarbeit. Um wenige Zeilen später  einzuräumen, dass man sich wohl mit seinem Eintreffen, irgendwann, arrangieren müsse.

Aber „wie“ er sich nun die einzelne Seele holt, darüber wird man doch verhandeln dürfen? Die naive Kleinmädchenstimme klingt in diesem Gedicht noch einmal besonders eindringlich an, und mit Berücksichtigung der brutal-sinnlosen Ermordung Lili Grüns wenige Jahre später, wirkt der Text wie eine unheilvolle Vorausschau auf ihren eigenen Tod. Es ist immer problematisch, ausgehend von fiktionalen Texten, Bezüge zur Biographie der einzelnen Autor/innen herzustellen. In diesem Fall erscheint es schwierig, keine Todesahnung der Autorin hinein zu interpretieren, zumal Lili Grün zusätzlich zu ihrer politischen Gefährdetheit als Jüdin, an einer schweren Tuberkulose litt, die trotz Kuraufenthalte nicht austherapierbar war. Sie muss sich dementsprechend ihrer eigenen Sterblichkeit verstärkt bewusst gewesen sein, und obwohl die empfundene existenzielle Sinnlosigkeit im „Sein zum Tode“ im ersten Teil des Gedichts zunächst in ein „Sein zum Leben“ umgewandelt wird, bleibt die Gewissheit, dass alles Schöne zerstört werden wird. Warum das so sein muss, übersteigt den menschlichen Verstand.

Mit dem Tod lässt sich nicht flirten, egal wie charmant man zu ihm spricht. Nicht einmal weibliche Schüchternheit kann den „vermummten Herrn“ davon überzeugen, seine Verkleidung abzulegen und wenigstens mit offenen Karten zu spielen. Dass der Tod im Nationalsozialismus unzählige folgsam-begeisterte Helfer/innen finden konnte, scheint aus heutiger Sicht unvorstellbar. Einspruch? Einspruch! Betrachtet man die Gedichte Lili Grüns als Ganzes, fällt unmittelbar auf, worunter das lyrische Ich am meisten leidet:

Es sind die das Subjekt einengenden gesellschaftlichen Arbeits- d.h. Alltagsstrukturen, die angepasste, unreflexive Bürger/innen hervorbringen. Lili Grün benutzt ihre literarischen Fähigkeiten, um sich „Luft“ zu machen und ihren Sehnsüchten einen sprachlichen Ausdruck zu geben. Ihre subtile Kritik an bestehenden sozialpolitischen Verhältnissen ist zeitlebens auf zu wenig Resonanz gestoßen, um das Bewusstsein der Massen zu verändern. Vielleicht hatte ihre Lyrik auch gar nicht diese Absicht, Literatur muss ja nicht forciert politisch sein. Möglicherweise würde sie auch ihren poetischen Glanz verlieren, aber eine Debatte darüber führt zu weit. Was ich betonen möchte ist deren erschreckende inhaltliche Aktualität. Die Tatsache, dass wir die beklagte subjektauslöschende Wirklichkeit in den thematisierten abgeschlossenen Systemen als unsere eigene erkennen könnten, wenn wir noch einen Rest an widerständigen, belebenden, liebenden und wütenden Emotionen fänden, die uns darüber bewusst werden ließen.

Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han charakterisiert das Gefühl der Wut in der Abhandlung „Müdigkeitsgesellschaft“ als „ein Vermögen, das in der Lage ist, einen Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen“. Ohne energetische Wut fehlt nicht nur die Kraft auf gesellschaftliche Missstände zu reagieren, sondern bereits die (emotionale) Fähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und eine Veränderung bestehender Verhältnisse herbei zu führen.

Lili Grün besaß (noch) genügend wütende Sehnsucht, um wunderbare Lyrik entstehen zu lassen. Poetische Texte aus einer vergangenen Zeit, die uns einen (kritischen) Blick auf die Gegenwart geben, wenn wir ihn denn umherschweifen lassen.

 

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