Kategorie Archiv:Veza Canetti

Abgründe in heller Farbe. Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Veza Canetti. Die gelbe Straße.

Elias Canetti ist ein bekannter Name der Weltliteratur. Veza Canetti kennen hingegen nur wenige. Vielleicht liegt das nicht zuletzt daran, dass sie ihren Mann zu Lebzeiten in seinem Schaffen aufopferungsvoll unterstützt hat, während er sich nicht viel für ihr Schreiben interessierte. Dabei glänzen ihre Texte von einer einmaligen, gesellschaftspsychologischen Schärfe und lesen sich trotz Tiefenwirkung fast wie nebenbei.

Der Roman „Die gelbe Straße“ spielt im Wien der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und wurde erst 28 Jahre nach Veza Canettis Tod, 1990 im Fischer Verlag, veröffentlicht. In dem Text geht es um Einzelschicksale, Individuen, deren moralisches und unmoralisches Handeln im Mikrokosmos unter die Lupe genommen wird. Verhaltensweisen, die normalerweise gut versteckt wirken und nicht für jeden offen sichtbar sind:

„Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte. Dem gewöhnlichen Spaziergänger fallen sie nicht auf“.

Umso mehr wirken sie auf den auktorialen Erzähler. Er hat sie alle im Blick – die ausgebeuteten, im Beruf und in der Ehe unterworfenen Subjekte zum Beispiel. Im Kapitel mit dem Titel Der Kanal werden etwa arbeitssuchende Dienstmädchen beschrieben, die abhängig sind von einer geldgierigen Arbeitsstellenvermittlerin, die unerbittlich ihre „Mädchen“ versucht, in den richtigen Haushalt zu bringen, um eine ordentliche Provision kassieren zu können. Dass Männer Frauen physisch und seelisch ausbeuten, ist ein bekanntes Phänomen. Wie stark das Verhältnis, gerade auch das Konkurrenzverhältnis unter den Frauen ist, wird jedoch selten beleuchtet, und macht diesen Roman gerade aus emanzipatorisch-feministischer Sicht zu einem Erkenntnisjuwel. Wie auf dem Viehmarkt werden die hilflosen, fragilen Personen feil geboten, und oft bleibt ihnen nur der „rettende“ Sprung in den Kanal, oder die Version, so zu tun, als wollten sie springen, weil erst dann vom Staat Hilfe erwartet werden kann. Natürlich bringt ihnen diese Hilfe nur etwas, wenn sie beim Täuschungsmanöver nicht ertrinken:

„‚Die Kostfrau will mich auf die Straße setzen.‘

‚Geh ins Obdachlosenheim.‘

‚Auf der Polizeidirektion ist ein Heim für Hausgehilfinnen (…)‘

‚Ja, aber nur wenn sie Selbstmord begangen haben. Wenn eine von euch heutzutage ins Wasser springt, macht sie direkt ihr Glück. Herausgefischt wird sie und kommt zur Polizeidirektion. Dort kann sie leben, wie der Herrgott in Frankreich. Kost und Quartier, bis sie einen Posten hat. Sogar den Posten verschafft man ihr unentgeltlich. Die reinste Schmutzkonkurrenz, wir zahlen die Steuern und die Polizei vermittelt Posten.'“

Unter den unmoralischen Frauen im Roman steht eine besonders bösartige Person im Fokus der Betrachtung, die nur „die Runkel“ genannt wird. Ein Name, der an ein Gewächs erinnert, sich wie Unkraut überall durchsetzt und nicht zu vertreiben ist. Die Runkel, eine skrupellose und gerade deswegen erfolgreiche Geschäftsfrau, besitzt zwei florierende Geschäfte in der „Gelben Straße“. Einen Seifenladen und eine Trafik; im letztgenannten beschäftigt sie zeitweise eine gutaussehende junge Frau, der sie kündigt, weil sie es nicht erträgt, dass diese keine schwerwiegende körperliche Behinderung quält. Die Runkel selber ist abhängig von immer wieder wechselnden Angestellten, die sie im Kinderwagen durch die Gegend schieben. Ihr Selbsthass schadet letztlich dem guten Dienstmädchen Rosa, das anstelle von ihr in der Anfangspassage von Der Unhold im Straßenverkehr umkommt:

„Eines Tages, als die Runkel im Kinderwagen über die Straße geführt wurde, überkam sie eine solche Verzweiflung über ihr elendes Leben, daß sie nichts anderes wünschte, als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine tausend-Kilo-Walze oder eine einfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen.“

Persönliches Unglück kann bösartig machen – warum sich ihr Zorn gerade auf wehrlose Frauen richtet, lässt sich nur durch fehlendes Solidaritätsbewusstsein erklären. Das Schneewittchenprinzip („Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die schönste im Land“) klingt in den zu einem Roman zusammengefügten Erzählungen immer wieder an und zeigt, warum Emanzipation vom Mann so unglaublich schwierig ist, wenn der Neid auf das eigene Geschlecht die Frauen untereinander auseinandertreibt.

Die schöne, stets freundliche Angestellte in der Trafik weiß sich gegen zudringliche Verehrer zu wehren. Leider gibt sie durch ihren toughen Auftritt der Runkel eine Rechtfertigung, sie zu feuern. Weil der Verschmähte sich aus Rache für die Zurückweisung täglich bei ihr über die Angestellte beschwert:

„Der dicke Lederhändler im Sessel war auf dem Sprung. Eine Minute später hatte er eine Ohrfeige sitzen und rannte wütend hinaus.“

„‚Was die Leute sich erlauben möchten! Stürzt sich auf mich und gibt mir einen Kuß'“.

„Und sie zeigte auf ihre weiche Wange, als wäre dort eine Krätze, ein Schandfleck, nicht mit Weihwasser reinzuwaschen.“

Auch wenn alle Kunden im Laden ihr erklären, dass sie sich für sie bei der Runkel einsetzen werden, machen es nur die wenigsten. Versprechungen werden nicht eingehalten, es heißt, sich im Leben alleine durchzubeißen. Die körperliche Schönheit steht ihr dabei im Weg, deutet darauf hin, dass sie aus konservativer Sicht gesehen, ausschließlich für die Ehe gemacht ist.

Auch den schon beschriebenen, von Männern unabhängigen Dienstmädchen ergeht es nicht gut, wenn sie ganz ansehnlich sind. So muss „Emma“ an ihrem neuen Arbeitsplatz feststellen, dass sie zur „Kitty“ wird, und dem „Kater“ des Hauses sexuell zur Verfügung zu stehen hat. Rettung, auch durch die Hausherrin, ist nicht in Sicht:

„Die Emma sah auf das Lächeln der Frau Vaß und auf die pfiffig stechenden Augen des Herrn vor ihr, es lag so viel Überlegenheit in den Blicken der beiden, daß die Emma auf dem Sessel sitzen blieb, wie festgebannt, obwohl sie gerne davongelaufen wäre.“

In dem Abschnitt mit dem Titel Der Oger wird die Scheinheiligkeit sämtlicher beschriebener Individuen am eindrücklichsten erzählt. Kurz nach der Hochzeit bemerkt die Ehefrau, welch doppeltgesichtigem Mann sie sich da anvertraut hat. Nach außen freundlich und großzügig, zeigt der Unhold (Herr Iger) im privaten, familiären Raum sein wahres Gesicht. Den Herrn, den er eben noch scheinbar herzlich mit Pralinen beschenkt hat, beschimpft er wenige Sekunden später vor den entsetzten Augen seiner Frau:

„‚Der Teufel soll ihn holen!'“ sagte jetzt Herr Igel und zog sein Lederkissen zurecht. Bald atmete er tief und aufdringlich. Die junge Frau ihm gegenüber sah ihn erschrocken an. Sie saß ganz starr.'“

Die Gewaltspirale hört nicht auf sich zu drehen, aber es wäre kein Text von Veza Canetti, wenn es nicht auch hier für die unterdrückte Gattin ein selbstinitiiertes Schlupfloch gäbe.

Erfrischend berichtet der Erzähler von zutiefst (un)menschlichen Verhaltensweisen und beschreibt aber immer auch Auswege aus der Misere.

Alle Beziehungen zwischen den Menschen beleuchten in der „Gelben Straße“ letztlich ein universelles Thema:

es geht um den neidvollen Wunsch nach Macht über den Einzelnen, der Unterdrückungsmechanismen hervorbringt und demonstriert, wie bereits die „Kriege im Kleinen“, zwischen den Normalbürgern, den 2. Weltkrieg ankündigen. Die Bewohner entwickeln keinen Sinn für die Möglichkeit politischer Veränderung, kein Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Vielmehr herrscht das Geld und somit die monomanische Gier danach. Individuelles Glück wird über das Gemeinwohl gestellt – gut durchs Leben kommt der, der zu tricksen weiß. So werden Themen, die über den persönlichen Erfahrungshorizont der Bewohner hinausgehen ausgeblendet, bis das nicht mehr möglich ist, weil der Krieg vor der Tür steht.

Zu den zahlreichen psychologischen Anspielungen und Beschreibungen im Roman ist ein Aspekt zu nennen, der bis heute Aktualität besitzt. Je brüchiger die Welt erscheint, umso stärker sucht jedes Individuum seinen Halt darin, umso verkrampfter klammert es sich fest an scheinbar festen Dingen. Zu versuchen, sich nach Jean-Paul Sartre im Spiegel des anderen zu sehen, wie es das folgende Zitat demonstriert, mag einen Rettungsanker bieten. Wer wiederum die anderen in sich erkennt, spürt zwar unendliche Schmerzen, aber schreibt als Reaktion darauf auch wunderschöne Texte. Veza Canetti ist der Beweis:

„“‚Du siehst nur dich in den andern wieder, Mutter.'“

„‚Das ist mein Halt, Diana.'“

„‚Ich sehe die andern in mir, das ist meine Qual.'“

„‚Und deine Kunst, Kind.'“

 

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