Monats-Archiv:November, 2015

Kassandras Fluch oder die Seelen mordender Mütter. Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Anke Stelling. Bodentiefe Fenster.

Der Roman „Bodentiefe Fenster“ von Anke Stelling (Verbrecher Verlag 2015) umkreist subtil ein uraltes Phänomen: das Rätsel darum, wie Mütter zu Kindsmörderinnen werden. Vielleicht leidet die „Medea“ von heute sogar an ähnlichen Symptomen wie diejenige aus der Antike. Manche Zeiten ändern sich nie, wenn die Fehler wiederholt werden, so lautet jedenfalls die bittere Erkenntnis der vom Alltag überforderten Protagonistin.

Sandra ist in Stellings tragikomischem Text ein Kind der 68-er Generation und müsste eigentlich gelernt haben, wie ein glückliches Leben „herzustellen“ ist. Ein Leben in Gleichberechtigung mit dem Partner, der Partnerin. Am besten in einem Gemeinschaftshaus, mit vielen Gleichgesinnten, mit denen der eigene Nachwuchs mühelos aufgezogen werden kann. Naiv möchte sie mit:

„lebenden Menschen für die Menschlichkeit kämpfen. Für Freiheit und Gerechtigkeit und Wahrheit und Liebe und Trost. “

Doch sie erkennt mehr und mehr, dass „gemeinschaftlich“ nicht unbedingt bedeutet, dass alle am gleichen Strang ziehen, das Ego automatisch in den Hintergrund tritt. Vielmehr entwickeln sich Parzellen der Egozentrik, in der jede Kleinfamilie ihre eigene Suppe kocht, die auch in regelmäßig stattfindenden Diskussionsrunden nicht solidarischer schmeckt. Stattdessen beäugen sich die überforderten Mütter gegenseitig und lauern auf zu Tage tretende „Schwächen“ des Gegenübers, um dann den eigenen, natürlich besseren Lebensstil rechtfertigen zu können.

Sandra ist in diesen Runden die zunächst für alle sympathische Außenseiterin, eine Art Kassandra, die die Probleme in der Gruppe benennen möchte, weil sie als Einzige richtig hinsieht. Doch ihre für die anderen unverständlichen Außenseiterprognosen verhallen im Plenum, weil nicht wirklich gesprochen wird, sondern es eigentlich um etwas anderes geht:

„Diskussion nennt sich das, und ist in Wahrheit nur ein Machtkampf. Wir sind gut darin, Offenheit zu suggerieren. Verletzlichkeit. Ehrlichkeit.“

Dabei möchte Sandra nur eins: dass endlich gemeinsam gehandelt wird, und die Kinder der 68-er, insbesondere die Frauen, nicht denselben Fehler machen wie ihre Mütter. Nur so zu tun, so zu reden, als ob alles besser wäre. Als wäre der Spagat gelungen zwischen Job, Kindererziehung und sexueller Erfüllung.

„Gleich“ ist in der sogenannten Gemeinschaft nur die Fassade, der Bau, der, mit bodentiefen Fenstern ausgestattet, Schutz bieten soll gegen die Sorgen und Ängste der Kleinfamilie und letztendlich für all die zerstörten Zukunftsträume steht. Weil Angst keine fortschrittliche Baumeisterin ist.

Zum Leid der „Kassandra“ bemerken die anderen Eltern den „Zombie-Modus“ gar nicht mehr, in dem sie sich befinden:

„Sie sehen zwar aus, als ob sie noch die wären, die du kennst, aber in Wahrheit funktioniert nur noch ihr vegetatives Nervensystem. Ihre Gefühle sind weitgehend unterdrückt zugunsten elterlicher Pflichterfüllung. Würden sie auch noch einen Bruchteil ihrer Gefühle wahrnehmen, könnten sie so nicht weitermachen.“

Sandra nimmt zuviel wahr, äußere Eindrücke überfluten sie schonungslos. Wie ein Schwamm saugt sie ihre pathologische Umgebung auf, und bekommt es nicht hin, die vielen Dreckpartikel herauszufiltern, bevor sie in ihre Seele gelangen. Gerne würde sie wie ihr Lebenspartner das Plenum schwänzen und stattdessen die halbe Nacht stumpf Science-Fiktion-Filme ansehen. Stattdessen muss sie ihre Meinung kundtun, sich einbringen und für die vermeintlich gute Sache kämpfen.

Negative Kindheitserinnerungen führen zusätzlich nicht unbedingt zu einer Entlastung der Psyche, und die heideggersche Formel, die besagt, dass sich die eigene Existenz in der Sorge um den anderen letztendlich um sich selbst sorgt, das Wohl der Kinder demnach nur die Angst um den nicht zu verkraftenden möglichen Verlust dieser aufzeigt, bringt Sandra an den Rand des Nervenzusammenbruchs:

„Ich bin momentan dabei, mir über diverse Widersprüchlichkeiten klarzuwerden, ich frage mich, wie weit man gehen darf in der Sorge um andere, und ob diese nicht am Ende immer nur die egoistische Sorge um sich selbst ist.“

Die Ich-Erzählerin erträgt ihre eigene, schonungslose Sicht auf die Lebensumstände nicht mehr, weil sie ihr deutlich macht, dass sie genauso versagt wie ihre Mitmenschen. Sie fühlt sich verfolgt von den „Seelen mordender Mütter“ und der Schuld über ihre eigenen, verzweifelten Gedanken.

Mit Blick auf die aktuellen Nachrichten, fällt auf, dass sich Fälle häufen, in denen mordende Mütter vor Gericht stehen, oder flüchtig sind (Spiegel Artikel v. 29.10.2015) . Wie die Psyche einer Person möglicherweise aussieht, die solch eine unverständliche, schreckliche Tat begeht, wird durch die Lektüre von „Bodentiefe Fenster“ von Anke Stelling deutlich. Stark wird der Text allerdings vor allem in den Beschreibungen der Fragilität des eigenen Daseins. So meint Sandra eben noch, ihr eigenes Leben im Griff zu haben, über den eigenen Problemen zu stehen und jederzeit eine helfende Hand, eine gute Stütze für andere sein zu können. Im gleichen Moment kippt das eigene, konstruierte System wie ein Kartenhaus in sich zusammen und übrig bleibt eine ausgebrannte, müde Seele.

Die Protagonistin wird zum Glück nur gedanklich, für Sekunden zur Kindsmörderin, weil ihre Sehnsucht nach Zusammenhalt und dem ewigen, utopischen Streben danach ihr die Kraft gibt, Kassandra zu bleiben und nicht zur Medea zu werden. Nicht zuletzt gefällt sie sich auch ein bißchen in dieser fatalistischen Rolle, weil es ungemein befriedigend sein kann, immer den absoluten Durchblick zu haben – selbst wenn man ihn oft nicht teilen kann.

Zuletzt bleibt der Wunsch nach absoluter, intersubjektiver Harmonie, nach etwas, was sich beste Freund/innen in der Kindheit schwören, und sich verändert, wenn plötzlich eigene Kinder da sind und gutgemeinte Worte nur noch das bereits kranke System stützen:

„Ich weine nur deshalb, weil ich an meine Sehnsucht erinnert werde, etwas zusammen zu machen. An meine Sehnsucht nach der Kraft, die darin liegt, sich einig zu sein. An meine Sehnsucht nach dem Schulterschluss, der Konzentration auf ein gemeinsames Ziel, der Spannung, die im Warten auf den Einsatz liegt. An meine Sehnsucht nach der Schönheit und Lautstärke orchestrierter Einzelstimmen, nach der Sicherheit, dass etwas, das man gemeinsam tut, auch das Richtige ist für alle. Ich weine, weil ich weiß, dass das in erster Linie eine Sehnsucht ist und auch bleiben wird.“

Mit bitterböser Ironie deckt Anke Stelling Paradoxien auf, die in Gemeinschaften automatisch entstehen, und versucht sich gar nicht daran erträgliche Alternativen aufzuzeigen. Stattdessen ist man sich nach der Lektüre sicher, dass das Leben eine Zumutung ist, mit Kindern oder ohne. Retten kann einen nur der utopische Glaube an das Gute, dem man sich annähert indem man die „bodentiefen Fenster“ ganz weit aufsperrt, damit sich zumindest der Blick in der Ferne verlieren kann.

 

 

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